Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Radical politics and (non)violent resistance

Autor: Jannis Julien Grimm

Der vierstündige Projektkurs Radical politics and (non)violent resistancefür fortgeschrittene Studierende in den Masterstudiengängen Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen beschäftigt sich mit widerständigen Praktiken und radikalen Mobilisierungsprozessen, die durch die Multiplizität globaler Krisen und die daraus resultieren­de radikale Abkehr großer Bevölkerungsteile von konventionellen politischen Partizipations­mustern neue Prominenz erfahren. Der Kurs legt dabei den didaktischen Fokus auf die Vermittlung von Einblicken in die Forschungspraxis zum Nexus Gewalt(freiheit) – Wider­stand und Protest – Repression sowie des konzeptionellen Vokabulars, um die untersuchten Phänomene analytisch zu fassen.

Das Ziel des Kurses war es, den Studierenden die notwendigen methodischen Werkzeuge nahezubringen, um die Dynamik von Gewalt während sozialer Mobilisierungsprozesse und die Radikalisierung sozialer Kämpfe zu analysieren, und sie zu befähigen, eigenständig Forschungsansätze zu entwickeln und mit Hilfe regelmäßiger Feedbackschleifen erste eigene empirische Forschungen durchzuführen. Die Studierenden entwickelten dazu im Verlauf des Semesters in einem kooperativen Verfahren ein Forschungsdesign. Sie diskutierten dieses in Kleingruppen und im Plenum, gaben schriftliches Peer-Feedback für Andere in Form von kurzen Reviews und formulierten mündliche Verbesserungsvorschläge als discussant während mehrerer Kolloquien. So konnten sie sowohl eigene Ideen wie auch die Ansätze ihrer Kommiliton*innen gemeinsam verfeinern und gleichzeitig ganz konkret den praktischen Alltag innerhalb eines wissenschaftlichen Projektteams erproben – was besonders baldigen Absolvent*innen eine Hilfestellung bei der Orientierung in der Zeit nach dem Masterabschluss bieten sollte.

Auch die finalen Projektarbeiten sollen zu dieser Orientierungsphase einen Beitrag leisten. So wurden Studierende, u.a. durch eine methodische Einheit zur Strukturierung von wissenschaftlichen Zeitschriftenbeiträgen, dazu angeregt, ihre Seminararbeiten direkt als Entwürfe für Fachartikel zu verfassen, mit dem Ziel ausgewählte Beiträge zum Beispiel im Forschungsjournal Soziale Bewegungen oder den Working Paper Reihen des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung oder des INTERACT Zentrums für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung zu veröffentlichen. Durch diese ersten Publikationserfolge, so die Idee, könnten Studierende zu weiterem Engagement in der deutschen Politikwissenschaft ermutigt werden.

Hinsichtlich seiner Struktur war das vierstündige Projektseminar wöchentlich in zwei Teile untergliedert (siehe: Seminarplan zum Download): Ein erster zweistündiger Block konzentrierte sich auf die Vermittlung von theoretischen Grundlagen, Forschungsdebatten und empirischen Fallbeispielen. Ein zweiter Block fokussierte vor allem auf methodische Fragen und Herausforderungen der Umsetzung von Forschungsdesigns.

 

 
  1. Der erste inhaltliche Strang des Seminars war stufenweise aufgebaut (Vgl. Abb. 1), um Studierende an die Debatten der Bewegungs- und Gewaltforschung sowie der politischen Theorie des zivilen Ungehorsams heranzuführen und sie schrittweise zu befähigen, differenziertere Positionen zu aktuellen diskursiven Fokuspunkten (etwa den Blockadeaktionen der „Letzten Generation“, der Räumung des Protestcamps in Lützerath oder den Massenprotesten im Iran) und eine eigene epistemische Grundhaltung zu entwickeln. Die Annahme: Erst wenn Studierende über gefestigte konzeptionelle Wurzeln und einen soliden Wissensstamm zu zentralen Forschungsperspektiven im Feld der Gewalt- und Protestforschung verfügen, werden sie in die Lage versetzt, sich produktiv mit unterschiedlichen Debattenzweigen (etwa zur Legitimierung von zivilem Ungehorsam in unterschiedlichen Regimen, zur Effektivität von Gewaltfreiheit bei Massenprotesten oder zum disruptiven Effekt von direkten Aktionen) auseinanderzusetzen und ihre Verästelungen in der Diskussion um konkrete Fallbeispiele zu verfolgen und bewerten.
  2. Der zweite methodologische Strang des Seminars beinhaltete Einheiten zur qualitativen und quantitativen Methodologie der Protest- und Gewaltforschung (darunter Ereignis-Analyse, Ethnographie, Experteninterviews, Analyse von Gewaltindikatoren und -Indices). Jede Einheit war verknüpft mit einer Übung, bei der die jeweils thematisierte Methode in einem begrenzten Rahmen getestet werden konnten. Die Idee: Studierende sollten das Seminar mit einem Werkzeugkoffer verlassen, aus dem sie auch in ihrer zukünftigen Forschung weiter schöpfen können. Daneben fanden gezielt Sitzungen mit besonderem Praxisbezug statt, beispielsweise zum Umgang mit Gewaltdarstellungen in Primärquellen, zur ethischen Sensibilisierung bei der Arbeit mit ethnographischen Methoden, oder zu Sicherheitsvorkehrungen bei Feldforschung mit vulnerablen Gruppen. Zudem befassten wir uns mit einer Reihe von Meta-Themen der akademischen Nachwuchsforschung, etwa den unterschiedlichen Wegen zur Promotion, den Möglichkeiten zum Verfassen von Journal-Artikeln auf der Basis von Studienarbeiten, oder den konkreten Unterschieden der Wissenschaftspraxis an unterschiedlichen Einrichtungen mit Forschungsbezug (darunter politische Stiftungen, öffentliche Think Tanks, universitäre Forschung und NGOS).

Aufgelockert wurde der Seminarplan durch zwei weitere Formate: Zum einen hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, in drei Gastvorlesungen zu laufenden Forschungsprojekten am WZB, an der Scuola Normale Superiore Florenz und am Institut für Protest- und Bewegungsforschung, einen Einblick zu erhalten, wie die diskutierten theoretische Rahmungen und methodischen Werkzeuge zur Umsetzung komplexer Forschungsvorhaben an der Schnittstelle von Protest und Gewalt(freiheit) fruchtbar gemacht werden können. Zum anderen konnten sie im Rahmen regelmäßiger Kolloquien Feedback zum Stand ihres eigenen Forschungsdesigns einholen.

Eine Stärke des Seminars war die dezidiert interaktive und praxisnahe Gestaltung des Lernraums und die Simulation wissenschaftlicher Arbeitsgruppen auf studentischer Ebene. Die Studierenden wurden auf vielfältige Weise in die Gestaltung des Seminarplans einbezogen, sowohl bei der Festlegung des Formats (von der gemeinsamen Erstellung von Seminarregeln, die sich im Syllabus finden, über den Aufbau von Gruppendiskussionen und die räumliche Gestaltung des Seminarraums, bis hin zur von Diskussion und Festlegung von Sprachregelungen und Trigger-Warnungen für Beiträge), als auch bei der Vertiefung von Inhalten. Regelmäßige Feedback Sitzungen und ein eigens anberaumter Teaching Analysis Pollhalfen dabei, die Seminarinhalte immer neu an die Bedürfnisse der Teilnehmenden anzupassen. Das Seminar nutzte hierfür auch eine breite Palette von Materialien, neben wissenschaftlichen Texten etwa Podcasts, YouTube-Videos und Dokumentationen.

Ein besonderer Schwerpunkt des Seminars lag zudem auf der vertrauensvollen Arbeit im Team und dem Versuch, klassische Hierarchien zwischen Lehrenden und Lernenden über konstante Feedbackschleifen durch horizontale Seminarstrukturen und eine Begegnung „auf Augenhöhe“ zu ersetzen. Als Lehrender nahm ich in vielen Sitzungen statt der Rolle eines Seminarleiters die Rolle eines Co-Diskutanten ein, machte eigene Schwierigkeiten und Unsicherheiten im Forschungsprozess transparent und gab Einblick in persönliche politische Meinungen und Haltungen in Abgrenzung zu durch Forschung gedeckten Einschätzungen. Die Vertrauensbeziehung, die durch diesen Zugang ermöglicht wurde, besteht auch nach Abschluss des Seminars fort, was vielleicht der bereicherndste Aspekt dieses Projektseminars ist. Auch die drei Kolloquien waren so aufgebaut, dass der Kreis derer, denen Studierende ihre Projektideen vorstellten schrittweise erweitert wurden. So konnte Überforderung durch zu massive Kritik aus großem Kreis vermieden werden und es etablierte sich vielmehr eine Atmosphäre der gegenseitigen professionellen Unterstützung. Insbesondere nach den COVID19-bedingten online Semestern hoben Studierende diese mühevolle Etablierung einer konstruktiven Gruppendynamik als besonders positiven Aspekt hervor.

Weitere Unterlagen:

Über den Autor:

Jannis Grimm leitet die Nachwuchsgruppe Radical Spaces am INTERACT Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freien Universität Berlin, wo er Dynamiken von sozialer Mobilisierung und staatlicher Repression, sowie die Entstehungs- und Wirkungsbedingungen von politischer Gewalt untersucht. Auf Twitter/X diskutiert er unter @jannisgrimm regelmäßig aktuelle Debatten um zivilen Ungehorsam, radikale Politiken und Staatsgewalt aus Sicht der Bewegungsforschung, sowie soziale Mobilisierungen im Nahen Osten und Nordafrika.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2023 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Lena Partzsch für ihr Lehrprojekt „Stockholm+50: Fünf Jahrzehnte globaler Umweltpolitik“ im Sommersemester 2022 an der Freien Universität Berlin verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.


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