Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Inklusion mit „Academic Practice Nuggets“

Autorin: Sandra Morgenstern

Situation & Politikwissenschaftliche Hochschullehre im deutschsprachigen Raum

In meinen Seminarsitzungen ist es mir wichtig Diskussionen anzuregen und die Studierenden zu einem reflektierten Nachdenken zu bewegen, sei es über methodische Ansätze, Theoriebildung oder ethische Überlegungen. Aktuell befinden wir uns mit der deutschen Hochschullehre in einer gewissen post-Pandemie Herausforderung, in welcher wir Lehrenden die Studierenden wieder zu zwischenmenschlichem akademischen Austausch fördern müssen – denn viele der aktuellen Bachelorstudierenden hatten nur wenig oder keine Präsenzlehre in ihrem bisherigen Uni-Leben. Zudem hat die Pandemie(-lehre) ihre Spuren bei den Studierenden hinterlassen: sie sind allgemein unsicherer, kämpfen mit Ängsten, unterschiedliche familiäre Hintergründe spielten unweigerlich wieder eine stärkere Rolle. Gleichzeitig haben die Austauschprogramme (Erasmus, Engage-EU, Partneruniversitäten), welche eine wichtige Säule des Prestiges der deutschen Lehre im Ausland sind, wieder vollumfänglich gestartet. Die unterschiedlichen universitären Hintergründe führen zu unterschiedlichen (tatsächlichen oder wahrgenommenen) Wissensständen und damit zu einer weiteren Diversifizierung der Studierendenschaft.

Vorgehen & Ziele des Projekts

Um diesen aktuellen Herausforderungen entgegenzuwirken, wende ich in meinen Präsenzseminaren eine der Lehren aus der Zeit der Pandemie an – die Möglichkeit, Frontallehre-Teile der Seminarsitzungen zu exkludieren, um individuelles Lernen zu fördern: kurz Flipped Classroom. Dies erlaubt es Studierenden in ihrem eigenen Lerntempo, zeitlich flexibel, und an ihr individuelles Vorwissen angepasst, Wissensheterogenitäten zu begegnen und somit einen Austausch auf Augenhöhe in der Seminarsitzung zu fördern. Durch Kombination dieser Methode mit „klassischen“ Präsenzlehremethoden wird die Lehre abwechslungsreicher und fördert die Aktivierung.

Ich habe hierfür mit drei meiner Studierenden im Sommersemester 2022 kurze Videos zu verschiedenen Themen der „fortgeschrittenen akademischen Praxis“ erstellt, die für die Studierenden des Wintersemesters 2022 Teil der wöchentlichen Seminarvorbereitung wurden. Die kurzen Lehrvideos im „animated black board“-Design sind in engem Austausch mit drei Studierenden erstellt worden, werden aus Studierendenperspektive der Hauptrollen Hans und Amanda leicht verständlich erklärt und sind als gängiges Medium der jungen Generation zusätzlich Barrieren abbauend.

Erfolge des Projekts

Aus subjektiver Lehrendenperspektive kann ich von einem positiven Effekt der Videos auf die Beteiligung und Motivation der Studierenden berichten. Neben der insgesamt aktiveren Teilnahme in den Seminardiskussionen, war es für mich besonders schön zu sehen wie engagiert, konstruktiv und qualitativ hochwertig das Peer-Feedback in unserer finalen Seminarsitzung, in welcher die Studierenden ihre Seminararbeiten skizzieren und gegenseitig kritisieren konnten, war; hier hatten die Studierenden zuvor oft große Hemmungen.

Für eine objektivere Beurteilung ließ ich mein Seminar durch Samuel Wissel und sein Team vom Zentrum für Lehre und Lernen (Universität Mannheim), zusätzlich zu den gängigen Evaluationen des Qualitätsmanagements der Universität, evaluieren. Die noch unveröffentlichte Evaluation zeigt vor allem positive Eindrücke bei der Selbstwirksamkeit der Studierenden, der Flexibilität und des individualisierten Lernens, sowie des selbst-beschriebenen Lernzuwachses.

Neben diesem Nutzen für das beschriebene Hauptseminar im HWS 2022, ist ein zentraler Aspekt des Beitrags die Langlebigkeit und Transferfähigkeit. Schon nach kurzer Zeit fanden die Videos großes Interesse bei Lehrenden unterschiedlichster Themen-Vertiefungen und werden in diversen Formen – einzeln/gebündelt, zur Vorbereitung/im Seminar – genutzt an der Universität Mannheim und darüber hinaus.

Ausführliche Beschreibung

Für die Vorbereitung der inhaltlichen Sitzungen des Hauptseminars „Field Research on Emigration in Developing Countries“ - in welchem die „Academic Practice Nuggets“ erstmals angewendet wurden - lesen die Studierenden zwei inhaltliche Texte und erstellen hierzu eine „Discussion Preparation (DP)“ in Form von 100-200 Worten. Ein DP-Beispiel wäre 'Diskutieren Sie die ethischen Aspekte der Studie X'. Im Seminar selbst werden die Texte besprochen und in einer Linie mit der Aufgabenstellung in den DPs wird ein bestimmter Aspekt tiefgehender diskutiert (Kleingruppen und Plenum). Schon in vergangenen Semestern zeigte sich, dass um die Diskussion auf hohem wissenschaftlichem Niveau sowie inklusiv zwischen den Teilnehmenden zu halten, ein Input-Talk (im Beispiel 'Ethische Reflexion in der Wissenschaft') unterstützen kann. Diese Input-Talks haben aus lerntheoretischer Sicht einen stärkeren Effekt vor der Bearbeitung der DPs.

Die 'Learning Nuggets' in Form von Kurzvideos ersetzen einen Input-Talk und dauern durchschnittlich circa 10 Minuten. Die Videos sind zusammenfassend und anschaulich in Form von 'animated-blackboard' Design und widmen sich unterschiedlichen Bereichen des fortgeschrittenen wissenschaftlichen Arbeitens (siehe Abbildung 1). Die Inhaltskonzeption, Skript, Design und Erstellung der Videos fand in starker Zusammenarbeit mit drei Bachelor-Studierenden statt um die Studierendenperspektive bestmöglich zu inkludieren. Dies spiegelt sich auch im Design der Videos wider: alle Videos sind aus der Perspektive der (fiktiven) Studierenden Amanda und Hans beschrieben und werden von Studierenden gesprochen. Alle Videos sind für Lehrende auf der Projektwebseite sowie als Open Education Ressources (OER) frei zugänglich.

 

 

Aufgrund des Videoformats können Studierende – im Kontrast zu einem live Frontalinput – das Video in benötigter Schnelligkeit abspielen, Pausen setzen, wenn nötig (z.B. für Mitschriebe oder Reflexion) oder es wiederholt anschauen. Gerade für Studierende mit geringeren Vorkenntnissen ist dies von Vorteil – nicht nur für das praktische Lernen, aber auch aus psychologischer Sicht ermöglicht das individuelle Erlernen von Fähigkeiten aus der wahrgenommenen Kategorie des „das-sollte-ich-bestimmt-schon-können“ (eine generell  ungerechtfertigte Wahrnehmung – besonders verbreitet nach der Pandemie und unter ohnehin benachteiligten Gruppen in Academia wie first-Generation, internationale oder weibliche Studierende) einen 'safe space'. Die Kurzlebigkeit der Videos, ihre Flexibilität, die Studierendenperspektive, sowie aktivierende Designs sollen die Wissensaufnahme mit Freude und Motivation verbinden. Gleichzeitig verbessert der Videoinput die Seminarvorbereitung, Sitzungspartizipation und -inklusion, was sowohl das Lernklima als auch den Lernoutput erhöht.

Generell ist die hier angewendete 'flipped classroom' Methode pandemiebedingt nicht mehr neu. Vielmehr soll das Projekt die positiven Lehren der Pandemie hervorheben und zum beibehalten anregen, indem Online- und Präsenzlehre gewinnbringend verknüpft werden.

Materialien zum Download:

Über die Autorin:

Sandra Morgenstern ist Postdoc am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES), Universität Mannheim, spezialisiert in internationaler politischer Ökonomie, mit besonderem Interesse an Migrationsforschung in einer Kombination aus eingehender Feldforschung (insb. Europa, Afrika) und quantitativen experimentellen Designs.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2023 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Lena Partzsch für ihr Lehrprojekt „Stockholm+50: Fünf Jahrzehnte globaler Umweltpolitik“ im Sommersemester 2022 an der Freien Universität Berlin verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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