Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Hermeneutik 2.0

Autor: Martin Beckstein

Hintergrund: Im HS19 bot ich an der Universität Zürich erstmals die Übung Hermeneutik im Format einer klassischen Präsenzveranstaltung an. Für das Coronasemester HS20 entwickelte ich eine ansatzweise interaktive Lernplattform auf der Basis von WordPress und dem Plugin H5P. Im Jahr darauf ersuchte ich zur Weiterentwicklung erfolgreich um eine Lehrinnovationsförderung (SFr 19.500) durch die UZH-Abteilung Digitale Lehre und Forschung. Das geförderte Projekt Hermeneutik 2.0wurde fristgemäß abgeschlossen und im HS22 als Lehrveranstaltung durchgeführt.

Ziele des Lehrprojekts: Das Lehrprojekt war ein ambitioniert angelegtes Experiment mit vier Zielen. Es sollten erstens Möglichkeiten zur partiellen Digitalisierung der Lehre ausgelotet werden, um zweitens die Qualität einer bestehenden Lehrveranstaltung zu erhöhen. Drittens sollten Wege gefunden werden, die Studierenden stärker zu aktivieren und das für die Motivation so wichtige Gefühl des „ownerships“ zu befördern. Zuletzt ging es um Einsparungspotenziale, bzw. die Identifikation von Möglichkeiten zum effizienteren Einsatz der knappen Ressourcen.

Erfolge: Die Quadratur des Kreises gelang: Die Lehrveranstaltung konnte im HS22 als online-unterstütztes Selbststudiumsmodul angeboten werden. Sie bindet nur noch eine anstatt vier Wochenstunden an Deputat. Der nichtpekuniäre Gewinn ist noch höher. Inhalte und Lernziele sind nun viel besser aufeinander abgestimmt. Alle Studierenden sind mittels Lehrvideos, Reflexionsübungen, Lernfortschrittstests und Gruppenarbeitsphasen durchgängig aktiv eingebunden.

Format: Das Format des online-unterstützten Selbststudiums verlangt von den Studierenden, einen vorgegebenen Lehrpfad abzuschreiten. Sie haben Lehrvideos zu schauen, Testfragen zu beantworten und interaktive Aufgaben zu erledigen. Die Zeiteinteilung bleibt ihnen dabei weitgehend überlassen. Darüber hinaus gibt es selbstorganisierte Gruppenarbeitsphasen (als Substitut für die früheren Tutorate) sowie zu Beginn und zum Abschluss des Semesters jeweils eine Sitzung im Präsenzformat.

Didaktisches Konzept: Konventionelle Einführungen in die Thematik weisen drei strukturelle Schwächen auf. Erstens wird der Entwicklung interpretativer Paradigmen in chronologischer Weise nachgespürt; auf konsequente Systematisierung wird verzichtet. Zweitens wird auf Klassikertexte gesetzt. Die Folge sind Diversitätsdefizite sowie eine inhaltliche Ablenkung vom technisch-methodischen Fokus der Veranstaltung. Drittens wird zwar über Methoden, ihre theoretischen und manchmal auch ideologischen Hintergründe geredet, aber kein ernsthafter Versuch unternommen, Studierende diese Methoden auch einüben zu lassen. Zur Behebung dieser drei Mankos verlagerte ich z.B. den gedanklichen Ausgangspunkt von der antiken Höhenkammliteratur in den popkulturell geprägten Erfahrungsalltag der Studierenden. Die Wege, die der menschliche und politikwissenschaftliche Verstehensprozess nehmen kann, rekonstruierte ich beginnend mit der Verarbeitung von sinnlichen Reizen im Cortex und illustrierte sie in einem stetig sich erweiternden Schaubild. Historisch marginalisierte Erfahrungen wurden eingebunden. Nachbereitungs- und Gruppenaufgaben sowie Leistungsnachweise wurden allesamt auf den Transfer von Fähigkeiten und die Steigerung von methodischer Applikationskompetenz ausgerichtet.

Leistungsnachweis: Die Leistungsnachweise der Veranstaltung sind gesondert hervorzuheben. Das Desideratum eines individuellen Feedbacks konnte mit traditionellen Mitteln aufgrund der hohen Studierendenzahl (80-110) nicht erfüllt werden. Ein erstes Experiment mit automatisch generiertem Feedback (H5P Essay-Tool) war von geringem Erfolg geprägt. (Selbiges gilt für ein nachträgliches Experiment mithilfe von ChatGPT). Gefunden wurde schließlich eine Lösung, bei der Computer nur eine organisatorische Funktion übernehmen: Nach der Abgabe erhalten alle Studierenden automatisch je drei Lösungen von Kommiliton*innen zur Begutachtung. Die Korrektur erfolgt durch die Studierenden selbst auf der Grundlage einer bereitgestellten Korrekturanleitung im Double-Blind Peer-Review-Verfahren.

Übertroffene Erwartungen: Das Peer-Assessment war ein voller Erfolg. Die Korrekturen waren qualitativ hochwertig, die Studierenden erhielten individuelles Feedback und lernten durch den Rollentausch hinzu. Wie gut die Aktivierung der Studierenden allgemein gelang, soll anhand eines Beispiels kurz erläutert werden. Die Aufgabenstellung des dritten Leistungsnachweises verlangte, einen von Platon im Gastmahl nur angefangenen Dialog mithilfe der sokratischen Methode fertig zu schreiben. Bewertet wurde ausschließlich, wie gut die Anwendung der sokratischen Methode in logischer Hinsicht gelang. Stilistische Bemühungen sollten lediglich im Rahmen einer notenunabhängigen Abstimmung gewürdigt werden. Dennoch machten überwältigende 92,9% der Studierenden einen ernsthaften Versuch, Platon zu imitieren (oder zu persiflieren). Zwei von drei Studierenden reichten mindestens doppelt so umfangreiche Lösungen als zum Bestehen nötig ein. Die vier besten Lösungen mitsamt des Umfragetools sind online einsehbar.

Kontextuelle Würdigung: Das Lehrprojekt hat die politikwissenschaftliche Lehre im deutschsprachigen Raum weiter vorangebracht. Es ist gelungen, hermeneutische Theorien und Interpretationsansätze, die u.a. für die ideengeschichtliche Forschung zentral sind, in dezidiert anwendungsorientierter Form aufzubereiten. Das Diversitätsniveau wurde signifikant erhöht. Wohingegen sowohl die philosophische Hermeneutik als auch der Methodendiskurs in der Politischen Ideengeschichte meist als Domäne weißer Männer präsentiert werden, konnten reibungslos nichtwestliche (z.B. Ibn Khaldun und buddhistische Hermeneutik) sowie feministische (z.B. über Francesca D’Agostini und Miranda Fricker) Dimensionen integriert werden. Zudem wurde ein Beweis dafür vollbracht, dass sich digitalisierte Lehre sehr vorteilhaft zur Ergänzung (es ging nie um Ersetzung!) in einen auf Präsenzunterricht ausgerichteten Curriculum integrieren lässt. Schließlich konnte mit beeindruckendem Erfolg ein innovatives Korrekturformat getestet werden.

In der Summe stellt das Lehrprojekt „Hermeneutik 2.0“ keine didaktische Schablone bereit, die andernorts einfach nachgezeichnet werden könnte. Aber als facettenreicher und konkreter Gedankenanstoß zur Verbesserung politikwissenschaftlicher Lehre unter ökonomisch prekären und technologisch disruptiven Bedingungen kann sie bestens dienen.

 

Über den Autor:

Martin Beckstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2023 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Lena Partzsch für ihr Lehrprojekt „Stockholm+50: Fünf Jahrzehnte globaler Umweltpolitik“ im Sommersemester 2022 an der Freien Universität Berlin verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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