Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Internationales Recht und Politik in der Praxis

Autoren: Jan Busse und Stephan Stetter

Die Analyse innerstaatlicher, trans- und internationaler Konflikte sowie von peacebuilding in (Post-)Konfliktregionen ist zentraler Bestandteil vieler Studiengänge in den Internationalen Beziehungen (IB), nicht zuletzt unter Bezugnahme auf Konzepte und Theorien der (interdisziplinären) Friedens- und Konfliktforschung. Dies beinhaltet sowohl das Studium einschlägiger allgemeiner Fachliteratur zu diesen Themenfeldern als auch die Analyse spezifischer Konflikte und peacebuilding Initiativen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in verschiedenen Weltregionen. Eine Verzahnung mit praktischem Wissen, das vor Ort in (Post-)Konfliktregionen gewonnen wird, hat hingegen nicht zuletzt aufgrund organisatorischer und finanzieller Begrenzungen eine zumeist geringere Bedeutung. Die interdisziplinäreakademische Lehr- und Forschungsreise (LFR) nach Griechenland und Zypern 2022 diente, aufbauend auf einem methodisch und didaktisch erprobten Lehrkonzept, dieser Verzahnung von Theorie und Praxis mit Blick auf die Analyse von Konflikten und peacebuilding in (Post-)Konfliktregionen. Die LFR wurde im Frühjahrstrimester 2022 im Rahmen des MA-Studienganges Staats- und Sozialwissenschaften an der Universität der Bundeswehr (UniBw) München durchgeführt.

Zum Kontext der Lehr- und Forschungsreisen an der UniBw München

Die LFR 2022 fand im 2. Trimester des MA-Studienganges als Teil des Wahlpflichtmoduls „Internationales Recht und Internationale Politik in der Praxis“ statt und wurde unter Leitung von Prof. Dr. Stephan Stetter und Dr. Jan Busse (Internationale Politik und Konfliktforschung) sowie Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan und Cornelia Schäffer, Ass. iur. (Internationales Recht und Europarecht) durchgeführt. Sie umfasste 4 Trimesterwochenstunden und wurde mit 7 ECTS-Punkten auf das Studium angerechnet. An der LFR 2022, die vom 28. Mai bis 5. Juni 2022 durchgeführt wurde, haben die o.g. vier Lehrenden sowie 25 Studierende des MAs teilgenommen.  

Die LFR sind integraler Bestandteil des o.g. Studienganges und werden jährlich federführend von den beiden oben genannten Professuren durchgeführt. Jedes Jahr werden andere (Post-) Konfliktgebiete besucht. Der Kerngedanke der LFR ist es, den Studierenden auf Grundlage des zuvor im BA und MA erworbenen fachspezifischen Wissens zur Analyse von Konflikten und peacebuilding in den IB, dem Internationalen Recht sowie der Friedens- und Konfliktforschung, die Praxisrelevanz dieses Wissens in einer (Post-)Konfliktregionzu vermitteln. Unter anderem können die Studierenden auf diese Weise das im Studiengang erworbene Fachwissen zu historisch-soziologischen Theorien in den IB (Stetter, Busse), den rechtlichen Rahmenbedingungen internationaler Politik (z.B. UN Charta, Seerecht, Menschenrechte, Kriegsvölkerrecht, internationale Tribunale) und internationaler Missionen und von in Konfliktgebieten tätigen internationalen Organisationen (Khan, Schäffer) als auch die Bedeutung des liberal peacebuilding und des local turns in der Friedens- und Konfliktforschung (Stetter, Busse) durch Vorträge, Besichtigungen, Gespräche und nicht zuletzt Beobachtung von Alltagspraktiken während der LFR abgleichen, hinterfragen und vertiefen. Die Lehrenden werben seit 2015 erfolgreich Haushaltsmittel der Universität der Bundeswehr für die jährliche Durchführung der LFR ein, die die (beinahe) vollständige Finanzierung der LFR für die Lehrenden und alle Studierenden (mit kleinem Eigenbeitrag) ermöglicht hat. Die LFR 2022 kann somit als konkreter und nachhaltiger Brückenschlag zwischen im Studium erworbenem interdisziplinärem Fachwissen einerseits und der Praxis politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Dynamiken in (Konflikt-)Regionen andererseits verstanden werden.

Die Lehr- und Forschungsreise nach Griechenland und Zypern

Für die Studierenden lag nach unserer Einschätzung der Wert der LFR 2022 auf drei Ebenen. Erstens war die Reise eine einmalige Möglichkeit, das im Studium durch Fachliteratur erworbene Wissen durch eigene Anschauung vor Ort und mit dem Blick auf konkrete Konfliktlagen in Südosteuropa und im Mittelmeerraum zu reflektieren. Zweitens führte die intensive Beschäftigung mit diesem spezifischen Raum dazu, dass mehrere Studierende thematische Anregungen entweder empirischer oder theoretischer Natur erfahren haben, die sie in ihren MA-Arbeiten (Abgabe August 2023) weiterführten. Drittens erlebten die Studierenden, die als Offizierinnen und Offiziere der Bundeswehr zukünftig auch als militärische Führungskräfte in internationalen Missionen (UN, NATO, EU) zum Einsatz kommen werden, die Komplexität und Notwendigkeit eines multidimensionalen Ansatzes des peacebuildings vor Ort und haben so wichtiges Praxiswissen erworben, das als Qualitätsmerkmal der verpflichtenden akademischen Ausbildung des deutschen Offizierskorps verstanden werden kann. Wir sind fest davon überzeugt, dass die durch die LFR vermittelten Erkenntnisse einen nachhaltigen Eindruck bei den Studierenden hinterlassen haben und eine überaus wichtige Ergänzung des im Studium über die Fachliteratur vermittelten Wissens darstellen.

Programmpunkte vor Ort

Dem interdisziplinären Charakter des Studiengangs und des Lehr- und Forschungsprofils der beteiligten Lehrkräfte entsprechend, spielten bei der Programmgestaltung die historischen, rechtlichen, politischen aber auch sozialen, kulturellen und ökonomischen Aspekte der Konflikt- oder Post-Konfliktkonstellationen in Griechenland (historisch die griechischen Unabhängigkeitskriege im 19. Jahrhundert, die italienische und deutsche Besatzung während des 2. Weltkriegs sowie die erst vor kurzem gelöste Mazedonienfrage) sowie in Zypern (innerzypriotischer Konflikt, Rolle Griechenlands und der Türkei, historische Bedeutung Großbritanniens als Kolonialmacht, geopolitische Dynamiken im östlichen Mittelmeer) eine wichtige Rolle. Die Studierenden setzten sich vor Ort mit diesen konkreten Konfliktdynamiken und Fragen des peacebuildings auseinander, befragten Entscheidungsträger*innen und traten mit Betroffenen ins Gespräch, sowohl während der formellen Programmpunkte, als auch bei Gesprächen und Erkundungen außerhalb des offiziellen Programms. Neben Diskussionsrunden mit Vertreter*innen nationaler Regierungen, internationaler Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und anderen Repräsentant*innen der Zivilgesellschaft spielte der Besuch von mit Blick auf Konflikte zentralen Orten (z.B. die von den UN im Rahmen einer peacekeeping-Mission kontrollierte entmilitarisierte Zone in Nikosia) sowie Orten der kollektiven Erinnerung (z.B. die an Famagusta/Nordzypern angrenzende „Geisterstadt“ Varosha) eine wichtige Rolle bei der Vermittlung praxisbezogenen Wissens. Auf dem Programm standen auch Gespräche mit Vertreter*innen der Deutschen Botschaft, der Delegation der EU sowie – für die Studierenden von besonderer Bedeutung – der Bundeswehr (Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Unterstützungsmission der UNIFIL II Mission in Libanon mit dem Heimathafen Limassol/Zypern).

In didaktischer Hinsicht wurde die LFR 2022 als eine Heranführung der Studierenden an praxisorientierte Forschung (practice-based research) konzipiert. Die Studierenden bekamen, erstens, zentrale Formate für den Wissenserwerb vor Ort (akademische Stadtführungen mit Fokus auf Konfliktaspekte durch lokale Expert*innen, roundtables und on-site visits mit Persönlichkeiten aus Politik, Medien, Wissenschaft, Militär und Zivilgesellschaft) vermittelt und konnten, zweitens, durch ihre aktive Mitarbeit während der Reise (etwa Rückfragen an Kooperationspartner*innen vor Ort) ihr Wissen aktiv einbringen und weiterentwickeln. Nicht zuletzt dadurch, dass die Gespräche weitestgehend in englischer Sprache stattgefunden haben, konnten die Studierenden ihre passive und auch aktive Kenntnis des Englischen während der LFR weiter verbessern.

In methodischer Hinsicht orientierte sich die LFR 2022 am Konzept des inverted classrooms. Ein zentrales Instrument hierfür war ein Reader, der die Lehrenden und Studierenden auf der Reise begleitet hat. Die einzelnen Programmpunkte der LFR 2022 wurden durch die Lehrenden ausgewählt und die Treffen vor Ort entsprechend organisiert. In mehreren Vorbereitungstreffen ab Januar 2022 wurden die Studierenden auf die Inhalte der Reise vorbereitet. Im Februar 2022 wurden den Studierenden 25 Themen mit direktem Bezug zum Themenfeld Konflikt/peacebuilding in Griechenland und Zypern vorgestellt und einzeln zugelost. Jede und jeder Studierende hat zu dem zugelosten Thema in einem ersten Schritt den Lehrenden im Februar 2022 fünf einschlägige wissenschaftliche Texte vorgeschlagen, auf deren Basis der im Reader einzusehende Essay zum zugelosten Thema geschrieben werden sollte. Nach dem Feedback der Lehrenden zur vorgeschlagenen Fachliteratur und einer entsprechenden Nachbereitung haben die Studierenden auf Basis einer einheitlichen Formatvorlage ihren Essay im Vorfeld der LFR geschrieben. Die Studierenden haben sich so mit einem spezifischen Thema bereits vor Beginn der LFR intensiv auseinandergesetzt. Sie wurden so in die Lage versetzt, auch andere, neue Sachverhalte im Kontext der LFR besser einzuordnen. Zugleich lernten die Studierenden auf diese Weise voneinander, da die Essays eine wichtige Informationsquelle während der LFR für alle Teilnehmenden darstellten. Während der LFR fand dann an geeigneter thematischer Stelle ein ca. 10-15-minütiger Vortrag der Studierenden zu dem jeweiligen Thema statt. Die vier beteiligten Lehrenden haben während der gesamten Reise die Essays und einzelnen Programmpunkte mit Blick auf übergeordnete allgemeine Konzepte und Theorien der IB, des Internationalen Rechts sowie der Friedens- und Konfliktforschung kontextualisiert. Der Essay, der mündliche Vortrag sowie die allgemeine Mitarbeit während der LFR bildeten die Note für die Lehrveranstaltung.

 

Über die Autoren:

Jan Busse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Internationale Politik und Konfliktforschung der Universität der Bundeswehr München.

Stephan Stetter ist Professor für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr München.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2023 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Lena Partzsch für ihr Lehrprojekt „Stockholm+50: Fünf Jahrzehnte globaler Umweltpolitik“ im Sommersemester 2022 an der Freien Universität Berlin verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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