Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Politische Teilhabe erforschen

Autorin: Anke Freuwört

Das Lehrforschungsprojekt „Politische Teilhabe erforschen“ hat im B.A. Studiengang Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen im Wintersemester 2022/23 stattgefunden und wurde zum 15.03.2023 mit der Einreichung studentischer Forschungsberichte beendet.

Ziel des Forschungsprojektes war es, den Studierenden zu ermöglichen, die im Studium erworbenen Fach- und Methodenkenntnisse z.B. in der Politikwissenschaft oder der Soziologie über die Fächergrenzen hinweg in interdisziplinär angelegten Lehrforschungsprojekten zu gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zu erfassen, fachlich und methodologisch zu reflektieren und problemorientiert und partizipativ in Forschungsgruppen zu bearbeiten.

Dieser ideelle Ansatz lässt sich bereits aus der Politikwissenschaft selbst heraus begründen. Politische Teilhabe wird in der Politikwissenschaft mehrheitlich als quantitative Erforschung von Wahlen und Motivlagen zu Wahlentscheidungen und -absichten verstanden. Da andere Disziplinen wie die Soziologie hierzu eher eine qualitative Perspektive einnehmen, bieten sich hierin interdisziplinäre Anknüpfungspunkte.

Ein vielfältiges Veranstaltungsformat

Das Lehrforschungsprojekt wurde wöchentlich und dreistündig abgehalten, wobei sich der in-class-Unterricht nach den jeweiligen Arbeitsphasen der Studierenden unterschied (s. Abbildung 1).  Der Beginn der Lehrforschung wurde durch den Input der Dozierenden geprägt, bezüglich des thematischen Rahmens, der Methoden- und Theorieauswahl, dem Feldzugang, der Erstellung von Leitfragen für semi-strukturierte Interviews, dem Abfassen von Interviewnotizen, der Transkription und der Datenauswertung. Hierbei wurden die Studierenden an die Transkriptionssoftware f4 und die Auswertungssoftware MaxQDA herangeführt. Bei der Wissensvermittlung wurde auf Vielseitigkeit gesetzt, d.h. es wurden wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche Quellen herangezogen und digitale Lernformate und -videos eingesetzt. Parallel zu der inhaltlichen Vermittlung fand die Forschungsgruppen- und Themenfindung statt. Im Kursverlauf haben die Studierenden mehr Raum erhalten, ihre Forschungsprojekte vorzubereiten, zu planen und diese umzusetzen, sodass im Januar ein offenes Kursangebot bestand. D.h. der Kurs wurde in Form eines offenen Sprechstundenformats abgehalten und die Studierenden wurden verstärkt in ihren aktuellen Forschungsprozessen angepasst an ihren Arbeitsfortschritt beraten und Fragen detailliert beantwortet. Zum Ende der Vorlesungszeit sind alle Studierenden im Plenum erneut zusammengekommen und haben ihre Forschungsergebnisse präsentiert. Die Ergebnisse wurden mittels selbst angefertigter wissenschaftlicher Poster präsentiert, fachlich kommentiert und in individuellen Forschungsberichten schriftlich dokumentiert.

 

 

Das dreistündige Lehrforschungsprojekt wurde zudem von einem einstündigen Tutorium begleitet. Studierende mit Forschungserfahrung unterstützten die neuen „Forscher*innen“ in der Herausarbeitung der Forschungsfragen, sodass zwischen den Jahrgängen Austauschplattformen geschaffen wurden. Hauptbestandteil des Tutoriums bildeten zudem die Begleitung in der Erstellung wissenschaftlicher Poster und Hinweise auf das Abfassen eines Forschungsberichts. Hierbei wurde ein besonderes Augenmerk auf die Verknüpfung der gewonnenen Daten mit dem Forschungsstand und den Theorien gelegt, da die Studierenden zum ersten Mal empirisch forschten.

Warum sollte wissenschaftliche Forschung in die Lehre implementiert werden?

Die Einzigartigkeit des Lehrforschungsprojektes zeichnet sich sowohl durch die offene Struktur als auch durch die Mitgestaltung (Ideen und Forschungsinteressen) der Studierenden aus. Innerhalb eines knappen Zeitrahmens haben die Studierenden eigenständig Forschungsprojekte entwickelt, durchgeführt und abgeschlossen. Die Ergebnisse wurden in wissenschaftlichen Postern und Forschungsberichten festgehalten, die aufgrund der außerordentlichen Qualität als Open Access Publikationen im Herbst 2023 veröffentlicht werden. Den Studierenden wurde somit in der Organisation als auch in der Durchführung der Forschung parallel zum laufenden Semester eine hohe Organisationskompetenz und Motivation abverlangt.

Für Lehrende gibt das Lehrforschungsprojekt die Möglichkeit individuell auf die Interessen der Studierenden einzugehen und mehr Flexibilität in der Lehre zu implementieren. Auch die Auseinandersetzung mit Forschungsanfängen sensibilisiert maßgeblich für die eigene Forschungsarbeit, wodurch eine gegenseitige Bereicherung stattfindet. Forschung wird nahbarer für zukünftige Wissenschaftler*innen. Im Sinne des forschungsorientierten Lernens und der engen Zusammenarbeit zwischen den Studierenden und den Dozierenden als Expert*innen, Coaches, Motivierende, Moderierende, Mitforschende etc. stellt das Lehrforschungsprojekt „Politische Teilhabe erforschen“ eine besondere Leistung in der politikwissenschaftlichen Hochschullehre im deutschsprachigen Raum dar.

Zu den Erfolgen des Lehrforschungsprojektes zählt jedoch mehr, dass insgesamt sechs Forschungsgruppen die Bandbreite politischer Teilhabe unter unterschiedlichen Gesichtspunkten untersucht haben. Die Forschungsprojekte der Studierenden nehmen ihren theoretischen Ausgang von der Frage, wer unter welchen Bedingungen formal wahlberechtigt ist und erforschen politische Teilhabe von da ausgehend. Je nach Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund, körperlicher und seelischer Einschränkung etc. gibt es unterschiedliche Beteiligungsformen, in denen sich Menschen politisch engagieren können. So haben die Forschungsgruppen in dem Bereich der formalen Teilhabe anhand von Zugangsbeschränkungen mobil-beeinträchtigter Personen zu Wahlen untersucht sowie eine Untersuchung zu den Einflussfaktoren auf das politische Interesse bei Heranwachsenden durchgeführt. Eine andere Forschungsgruppe hat die informelle Teilhabe speziell über den Zugang zu einem lokalen Jugendparlament untersucht, die sich auf die Motive und Ziele der Jugendlichen fokussiert. Besonders hervorzuheben sind zwei Forschungsprojekte, die aktuelle Forschungsfelder untersuchen, die zukünftig relevanter werden. Hierzu zählt eine Untersuchung von Basisgewerkschaften, die im Gegensatz zu herkömmlichen Gewerkschaften atypische Beschäftigungsfelder politisch mobilisiert sowie eine Untersuchung von postkolonialen Aufarbeitungsprozessen, die Interessenkonflikte zwischen zivilgesellschaftlich-politischem Engagement und kommunaler Verwaltung herausstellt.

Die Forschungsgruppen haben somit weitere Daten zu bereits bestehenden Forschungsansätzen generiert, sowie auch zur weiteren Theorienbildung beigetragen und gänzlich neue Forschungsfelder untersucht.

Die Forschungsergebnisse sind online abrufbar. Die Beiträge der Forschungsgruppen werden in der Göttinger Open Access Reihe SowiPro veröffentlicht.

Über die Autorin:

Die Sozialwissenschaftlerin Anke Freuwört ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihre interdisziplinäre Promotion zur politischen Teilhabe schließt sie an der Universität Kassel ab.

 

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2023 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Lena Partzsch für ihr Lehrprojekt „Stockholm+50: Fünf Jahrzehnte globaler Umweltpolitik“ im Sommersemester 2022 an der Freien Universität Berlin verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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