Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Evolution von Staaten und Organisationen – Politische Theorie und mathematische Modellbildung

Autoren: Matthias Gsänger, Johannes Müller und Volker Hösel

Beteiligt an dem Seminar waren Studierende des Instituts für Politikwissenschaft und Soziologie der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg und des Department of Mathematics der Technischen Universität (TU) München. Für die Studierenden beider Fächer handelte es sich um ein Seminar für Fortgeschrittene. Zu den Zielen der Veranstaltung gehört es, die Studierenden Erfahrungen machen zu lassen in eigenständiger Projektarbeit in interdisziplinären Teams. Wichtig ist hierbei, die Wissenschaftskultur der anderen Disziplin kennenzulernen und sich darauf einzulassen, aber auch sich bezogen auf die Themenstellung der theoretischen, konzeptionellen und methodologischen Möglichkeiten der je eigenen Disziplin bewusst zu werden. Die Studierenden müssen geeignete Ansätze der eigenen Fachrichtung auswählen und den Studierenden des anderen Faches erklären können. Das ist freilich sehr anspruchsvoll. Zu den Kompetenzen, die die Studierenden erwerben sollen, zählt daher auch, sich gegebenenfalls Unterstützung einzuholen.

Die „Evolution of Institutions for Collective Action”, so der Untertitel von Elinor Ostroms „Governing the Commons“, spielt gerade im historischen Institutionalismus immer wieder eine Rolle. Dabei wird das Konzept der „Evolution“ aber oft eher metaphorisch gebraucht. Wir orientieren uns deshalb an Beiträgen wie Hendrik Spruyts „The sovereign state and its competitors“. Hier wird explizit die These entwickelt, der moderne Territorialstaat setze sich in der frühen Neuzeit gegen konkurrierende Ordnungsmuster wie Stadtstaaten, Städtebündnisse [wie die Hanse] oder das Universalreich evolutionär durch. Die unterschiedlichen Formen organisierter Herrschaft stellen hier die Phänotypen dar, institutionenökonomische Faktoren beeinflussen deren 'Fitness'.

Ziel des Seminars war auch, jüngere Beiträge zur biologischen Evolutionstheorie, z.B. Samir Okashas „Evolution and the Levels of Selection“, so zu rekonstruieren, dass es in empirische sozialwissenschaftliche Forschung übersetzbar wird.

Die beteiligten Dozenten hatten sich im Rahmen eines anderen interdisziplinären Projektes kennengelernt, und dort ihr gemeinsames Interesse an der Anwendung evolutionstheoretischer Konzepte auf sozialwissenschaftliche Phänomene entdeckt, und beschlossen, das Experiment mit diesem Seminar zu versuchen. Die Erfahrung, wie viel Zeit es braucht, die Denkweise von Vertreter*innen einer anderen Disziplin zu verstehen, hat direkte Konsequenzen für die Durchführung der Veranstaltung.

Da die Teilnehmer*innen von zwei Universitäten aus zwei Städten kamen, fanden die Treffen natürlich zumeist online statt. Begonnen haben wir allerdings mit einem Kick-Off-Wochenende, schon Anfang Oktober in einem Tagungshaus, das von beiden Städten aus gut erreichbar ist. Die Teilnehmer*innen sollten Zeit haben, sich persönlich kennenzulernen, aber eben auch Einblicke in die jeweils andere Fachkultur zu bekommen, und sich als Teams, (je zwei Mathematiker*innen und zwei Politolog*innen) zu konstituieren. Die Kosten wurden zu gleichen Teilen von der TU München und aus Studienzuschüssen der JMU Würzburg getragen.

Um den Studierenden einen Einblick in die jeweils andere Fachkultur zu geben, gab es Vorträge seitens der Dozenten zur Modellierung von Meinungsbildungsprozessen und zur Theorie der Allmende von Ostrom. Mit Evolutionstheorie setzten sich die Studierenden erstmals in einer Gruppenarbeit der frisch gebildeten Teams zur Frage: „Gibt es Phänomene von neutraler Evolution auch im Bereich der Politik?“ auseinander. Die Ergebnisse wurden anschließend im Plenum vorgestellt und diskutiert.

Die Studierenden hatten fünf Themen zur Auswahl:

  1. Staatenbildung: Multi-Skalen Evolution
  2. Von Gleichheit zu Hierarchie - Backyard model
  3. Gruppengröße, Stress, Kommunikation: Ungleichheit und selbst-Stabilisierung von Ungleichheit
  4. Gruppengröße, Stress, Kommunikation: Iteration auf höherer Ebene
  5. Staatenbildung - geographischer Ansatz.

Je ein Team übernahm eines der Themen. Wir hatten zu jedem Thema einige mögliche Fragen formuliert, die den Studierenden als Orientierung dienen sollten, aber nicht verbindlich waren. Bis Anfang November hatten die Gruppen dann Zeit, sich die Ausgangsliteratur zu erarbeiten und zu überlegen, wie sie die Ideen und Modelle dieser Texte aufnehmen und weiterentwickeln wollen. Während des Novembers und Dezembers trafen sich die Gruppen regelmäßig online, mehrmals auch mit den Dozenten, um Konzepte und Modelle zu diskutieren, und sich Feedback einzuholen. Es gab auch mehrfach Treffen in Präsenz, wo mit den Würzburger Studierenden spezielle sozialwissenschaftliche Fragen diskutiert wurden. Entsprechende Treffen gab es auch bei den MathematikerInnen in München.

Ab Januar trafen wir uns wöchentlich online im Plenum. Die Teams präsentierten hier ihre Projekte und stellten ihre Konzepte, Modelle und Simulationen zur Diskussion. Bis zum offiziellen Würzburger Prüfungstermin am 31. März hatten die Teams dann Zeit, ein englischsprachiges Paper zu Ihrem Projekt zu verfassen. Auch in dieser Phase gab es online Gruppentreffen mit den Dozenten, wenn von studentischer Seite Bedarf angemeldet wurde. Alle Teams haben pünktlich ihre Papiere eingereicht. Anfang Mai trafen wir uns noch einmal in Nürnberg zu einem Abschlusstreffen.

Am Ende der letzten Plenumssitzung gaben die beteiligten Studierenden ausführlich Feedback und Evaluation, wie wir das Format weiterentwickeln sollten, z.B. bei der Gestaltung des Kick-Off-Wochenendes. Die entsprechenden Hinweise werden wir aufgreifen. Denn aufgrund der sehr guten Erfahrungen mit dieser Veranstaltung werden wir das Seminar im kommenden Wintersemester wieder anbieten.

Trotz des hohen Anspruchs und der Herausforderungen sind alle Studierenden dabeigeblieben. Die Teams waren stabil. Es wurden von den Studierenden originelle Herangehensweisen entwickelt und spannende Ergebnisse präsentiert. Eine Mathematikerin und ein Politologe haben sich entschlossen, ihre Examensarbeiten an ihr Seminarprojekt anzuschließen. Zu guter Letzt sind im Zuge eines der Projekte, vermittelt über eine Kollegin vom Institut für Geschichte der JMU, neue interdisziplinäre Kontakte zur Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse entstanden, die wir für das Projekt pflegen und ausbauen werden.

 

 

Über die Autoren:

Matthias Gsänger ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Politikwissenschaft und Soziologe an der JMU Würzburg; Arbeitsgebiete sind moderne Politische Theorie sowie Handlungs- und Entscheidungstheorie.

Johannes Müller ist Professor für Angewandte Mathematik in Ökologie und Medizin am Department of Mathematics der TU München.

Volker Hösel ist Biomathematiker und Privatdozent am Department of Mathematics der TU München sowie Geschäftsführer von StatSiConsult, München.

 

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2023 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Lena Partzsch für ihr Lehrprojekt „Stockholm+50: Fünf Jahrzehnte globaler Umweltpolitik“ im Sommersemester 2022 an der Freien Universität Berlin verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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