Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Progressiv oder regressiv? Parteipositionen zur Geschlechterpolitik in Deutschland

März 07, 2024

Autor*innen: Stefan Wallaschek, Monika Verbalyte und Monika Eigmüller

 

 

Geschlechterpolitik gehört wohl derzeit zu den meistdiskutierten Politikbereichen – sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern. Die ungleiche Verteilung der Betreuungszeit von Kindern durch ihre Eltern wird ebenso debattiert, wie die Nutzung bzw. das Verbot der Nutzung gender-sensibler Sprache, z. B. jüngst im Bundeswirtschaftsministerium, oder das Recht auf Abtreibung, welches in Ländern wie Polen und den USA massiv eingeschränkt wurde und auch in Deutschland nur unter bestimmen Bedingungen straffrei ist. Ebenso fungieren feministische Aktivist*innen oder LGBTQI*-Personen in der öffentlichen Wahrnehmung teilweise als sogenannte Triggerpunkte, da diese Sozialfiguren mit bestimmten Themen, gesellschaftlichen Orientierungen und politischen Positionen assoziiert werden. Doch wie stehen die politischen Parteien in Deutschland zu Geschlechterpolitik jenseits von Skandalisierungen und Empörungswellen auf sozialen Medienplattformen? Lassen sich die Parteipositionen anhand des bekannten Links-Rechts-Schemas erklären oder folgen sie eher einer neueren kulturellen Konfliktlinie?

 

Multiple Dimensionen von Geschlechterpolitik

Um diese Fragen zu beantworten, haben wir in unserer Studie die Befragung von Parteiexpert*innen vor der Bundestagswahl 2021 für das Politikfeld Geschlechterpolitik ausgewertet. Diese Parteiexpert*innen wurden gefragt, wie sie die Parteipositionen zu verschiedenen Themenbereichen wie Klima, Migrationspolitik oder Geschlechterpolitik der relevantesten Parteien einschätzen. Spezifisch ging es um die Positionen von AfD, CDU, CSU, Die Grünen, Die Linke, FDP, Freie Wähler (FW) und SPD. Für das Politikfeld Geschlechterpolitik wurden folgende Fragen gestellt: Inwiefern die Parteien eine aktive staatliche Gleichstellungspolitik unterstützen, den Gender Pay Gap abbauen, traditionelle Geschlechterrollen reduzieren, diverse Familienmodelle gleichstellen wollen, sich für eine geschlechtersensible Sprache in der Verwaltung einsetzen und inwieweit die Parteien Bedürfnisse und Interessen von Frauen vertreten.

Für die statistische Analyse der Parteipositionen fokussieren wir auf die im Bundestag vertretenen Parteien. Einschätzungen zu den Freien Wählern haben wir außen vorgelassen, weil die befragten Expert*innen diese Partei im Politikfeld Geschlechterpolitik viel seltener als die anderen Parteien positioniert haben. Ein Grund könnte sein, dass, die geschlechterpolitische Positionierung der FW für die Expert*innen wohl unklarer erschien als bei den anderen Parteien.

Aus den genannten Fragen zur Geschlechterpolitik haben wir einen Index gebildet, um die generelle Parteiposition in diesem Bereich zu berechnen. Um zu überprüfen, wo die Parteien auf dem Links-Rechts-Spektrum verortet werden, haben wir die Frage genutzt, wie die Parteien zur Umverteilung stehen. Die kulturelle Konfliktlinie haben wir anhand früherer Studien zur sogenannten GAL-TAN-Konfliktlinie konzipiert. GAL verweist auf eine grüne-alternativ-libertäre Position während TAN eine traditionalistisch-autoritär-nationalistische Position darstellt. Zu deren Messung wurden verschiedene Fragen zur Befürwortung oder Ablehnung von Migration-, EU- und Klimapolitik oder zur gesellschaftlichen Liberalisierung (im Bereich Sterbehilfe oder Homosexualität) genutzt und schließlich ebenfalls zu einem Index zusammengefasst.

Parteikonfliktstrukturen in der Geschlechterpolitik

Die Ergebnisse unserer Untersuchung lassen sich auf drei zentrale Punkte reduzieren. Erstens, die Parteipositionen zu Geschlechterpolitik sind entlang der neueren kulturellen Konfliktlinie strukturiert. Um die geschlechterpolitische Positionierung der Parteien zu erklären ist es also weniger wichtig, ob die Parteien umverteilungspolitisch eher links oder rechts stehen, sondern inwiefern sie sich in kulturellen Fragen offener (GAL-Pol) oder restriktiver (TAN-Pol) zeigen. Auf der Y-Achse wird die FDP beispielsweise in ökonomischen Fragen (Links-Rechts (ökon.)) näher am rechten Pol eingeschätzt als die AfD, während sie in kulturellen Fragen (GAL-TAN) als offener angesehen wird und mittiger auf der Y-Achse positioniert ist als die AfD. Gleichzeitig ist die FDP-Position auf dem Geschlechterpolitik-Index (X-Achse) progressiver, das heißt sie steht weiter rechts auf der X-Achse, als die AfD.

Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, wird beispielsweise die FDP in ökonomischen Fragen (Links-Rechts (ökon.)) näher am rechten Pol auf der Y-Achse eingeschätzt als die AfD, während sie in kulturellen Fragen (GAL-TAN) als offener angesehen wird und mittiger auf der Y-Achse positioniert ist als die AfD.

 

 

Abbildung 1. GAL/TAN- und Links/Rechts-Achse in der Gleichstellungspolitik der deutschen politischen Parteien. Quelle: OES2021, eigene Berechnungen.

Zweitens, die Parteien, die näher am GAL-Pol sind, sind in der Geschlechterpolitik progressiv und unterscheiden wenig, um welchen spezifischen Bereich es geht. Gleich ob es um den Abbau des Gender Pay Gaps geht, die Befürwortung von geschlechtersensibler Sprache oder den Abbau traditioneller Geschlechterbilder, Grüne, Linke und SPD unterstützen diese Positionen laut der Expert*innen klar und deutlich. Besonders Grüne und Linke weisen sehr ähnliche Positionen zu allen genannten Fragen auf. Die AfD bildet den Gegenpol, da sie stets als klar ablehnend positioniert wird. Die Positionen von CDU und CSU hängen stärker davon ab, ob die Bereiche eher auf Frauen oder eher auf LGBTQI*-Personen abzielen. Gerade die Fragen zur Gleichstellung diverser Familienmodelle und dem Gendern werden von beiden Parteien deutlich abgelehnt, während die Positionen beider Parteien zu den Frauen-bezogenen Aspekten als zurückhaltend aber nicht ablehnend interpretiert werden können. Die FDP wiederum wird je nach Frage unterschiedlich zu geschlechterpolitischen Themen eingeschätzt, was Konsequenzen für die aktuelle Ampel-Regierung hat (siehe unten).

Drittens lassen sich zwei zentrale Konfliktkonstellationen für die gegenwärtige Politik ablesen. Zum einen eine deutliche Konfliktlage zwischen den Grünen als stark befürwortende Partei einer progressiven Geschlechterpolitik, die Ungleichheiten und Ungleichbehandlungen für Frauen und LGBTQI*-Personen abbauen will, und der AfD, die eine traditionell-konservative Geschlechterpolitik vertritt und die jeglichen Abbau von Geschlechterunterschieden negiert. Gleichzeitig ergibt sich jedoch eine weitere politische Auseinandersetzung, die sich in der Ampelkoalition manifestiert. Die Positionen der SPD und Grünen stehen teilweise diametral zur Position der FDP. Den Abbau des Gender Pay Gaps hält die FDP gegenüber SPD und Grünen für eher irrelevant und die Nutzung geschlechtersensibler Sprache lehnt die FDP deutlich ab, wie das jüngste Gendern-Verbot im Bundeswirtschaftsministerium von Christian Lindner von der FDP verdeutlicht. In Fragen der Gleichstellung diverser Familienmodelle oder dem Abbau von traditionellen Geschlechterstereotypen rückt die FDP hingegen näher an die beiden Koalitionspartner heran. Sollte es der Ampelkoalition also tatsächlich darum gehen, ‚Mehr Fortschritt zu wagen‘, wie es der Koalitionsvertrag 2021 versprach, bieten sich nur begrenzt programmatische Gemeinsamkeiten, um Schritte zu einer umfassenden progressiven Geschlechterpolitik zu machen.

Politisierung der Geschlechterpolitik

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Parteien pointierte Positionen zu verschiedenen Geschlechterpolitikbereichen beziehen und Parteiunterschiede sich vor allem anhand der Positionen zu kulturellen Fragen erklären lassen. Insbesondere die traditionell-konservativen und bürgerlich-liberalen Parteien CDU, CSU und FDP, die zumeist als TAN-Parteien in unserer Studie klassifiziert werden, zeigen jedoch spezifische Positionsabweichungen. Ein Grund für etwas progressivere Positionen gegenüber Frauen-bezogenen Themen könnte das Werben um weibliche Stimmen sein, da in den letzten Dekaden Frauen zunehmend linke und grüne Parteien gewählt haben und diese Frauenstimmen zurückgewonnen werden sollen. Gleichzeitig ist die Ablehnung von LGBTQI*-Politiken bei CDU und CSU wohl als Zeichen für das konservative Stammklientel zu deuten, die eine Öffnung für diese Themen nur bedingt unterstützt. Und selbst als die CDU-geführten Regierungen unter Angela Merkel (2005-2021) Gesetzesänderungen für LGBTQI*-Personen durchgeführt haben, war dies nicht auf Drängen der CDU/CSU, sondern trotz ihrer Widerstände geschehen.

Zudem kann eine zunehmende Politisierung der Geschlechterpolitik ausgemacht werden, da Parteien wie die AfD, Grüne oder Linke explizite Pro- oder Contra-Positionen und einnehmen. Geschlechterpolitischen Fragen wird, wie wir zeigen konnten, in diesen Parteien großen Wert zugeschrieben. Eine themen-spezifische Polarisierung kann in der Geschlechterpolitik kaum ausgemacht, da die Parteienpositionen statt einer klaren Lagerbildung eine eher abgestufte Zustimmung oder Ablehnung von Geschlechterpolitiken zeigen. Hier bleibt für die diesjährigen Landtagswahlen und für die Bundestagswahlen 2025 abzuwarten, inwiefern geschlechterpolitische Themen weiter politisiert werden und womöglich zu einer polarisierten Debatte und Parteienkonstellation führen werden.

 

Über die Autor*innen:

Stefan Wallaschek leitet seit November 2023 an der Europa-Universität Flensburg das Forschungsprojekt „Geschlechterpolitik und (Anti-)Gender Diskurse – Zwischen Fortschritt und Regression“ das von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wird. Er forscht zu politischer (digitaler) Kommunikation, Europäischer Politik, Geschlechterpolitik und Solidarität in Europa.

Monika Verbalyte arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Flensburg im internationalen Forschungsprojekt “Value conflicts in a differentiated Europe: The impact of digital media on value polarization (ValCon)“ das von der Volkswagen Stiftung gefördert wird. Ihre Forschungsinteressen sind Emotionssoziologie, politische Kommunikation, Europasoziologie, affektive und politische Polarisierung sowie soziale Netzwerkanalyse und vergleichende Umfrageforschung.

Monika Eigmüller ist Professorin für Soziologie an der Europa-Universität Flensburg und Direktorin des Interdisciplinary Centre for European Studies (ICES). Zudem leitet sie das internationale Forschungsprojekt “Value conflicts in a differentiated Europe: The impact of digital media on value polarization (ValCon)“. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit verschiedenen Bereichen der Soziologie der europäischen Integration. Hauptthemen sind Wertekonflikte und soziale Ungleichheit in den EU-Mitgliedsstaaten sowie EU-Sozialpolitik.