Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Internationale Sicherheitspolitik und ihre Wendepunkte – Before and after 2022

Autorin: Anja P. Jakobi

Das hier vorgestellte Projekt ist eine Umgestaltung des 4 SWS-Seminar im Wahlpflicht-Modul Friedens- und Konfliktforschung (FKF). Das Seminar richtet sich an BA-Studierende der Sozialwissenschaften unterschiedlicher Semester (ab dem 3. Fachsemester bis kurz vor BA-Abschluss). Es wurde kurzfristig im März 2022 geplant und im Sommersemester (SoSe) 2022 angeboten (Semesterbeginn: 19. April 2022). Das Kursdesign musste auf verschiedene Problemlagen reagieren: den Krieg in der Ukraine, der viele Studierende stark beschäftigte, gleichzeitig inhaltlich zum Studium der Internationalen Beziehungen (IB) motivierte, aber auch hohes Konfliktpotential und Ängste in die Gruppe der Lernenden bringen kann. Gleichzeitig musste der Übergang von der bis dato in dem Studium prägenden Online-Lehre zu einem konstruktiven Präsenz-Seminar ohne Anwesenheitspflicht, mit umfangreicher Wissensvermittlung bei gleichzeitig offener und konstruktiver Diskussionskultur erfolgen.

Das Seminar benötigte in mehrfacher Hinsicht Flexibilität: Im Februar 2022 waren dabei die üblichen, umfangreichen administrativen Prozesse im Bereich Lehre an der TU Braunschweig eigentlich alle abgeschlossen, inklusive Lehr- und Raumplanung. Als am 24. Februar dann der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine begann, war schnell deutlich, dass dieses Thema zwar in den grundständigen Veranstaltungen der IB Berücksichtigung finden konnte, aber gerade der Wahlpflichtbereich IB – also gerade auch die Studierenden, die sich auf IB spezialisieren möchten – mit der bestehenden Lehrplanung im SoSe 2022 kein Seminarangebot erhalten würden, das diesen Krieg vertieft behandelt (da FKF regulär im Wintersemester angeboten wird). Mein Vorschlag, kurzfristig das Modul FKF in das Sommersemester vorzuziehen, um damit eine Möglichkeit zu geben, den Krieg in der Ukraine detaillierter zu behandeln, wurde von Studienkoordination und Dekanat unterstützt, inklusive einer damit verbundenen, genehmigten Änderung meines Lehrdeputates, das nun im SoSe 2022 erheblich überschritten wurde, und daher im darauffolgenden Wintersemester unterschritten werden konnte. Das resultierende Seminar kennzeichnete eine Kombination von inhaltlichen, didaktischen und organisatorischen Zielen.

Inhaltliche und didaktische Zielsetzungen

Die zentralen inhaltlichen Ziele waren die Vermittlung von über den Einzelfall hinausgehende Erkenntnisse der Sicherheitspolitik und der Friedens- und Konfliktforschung kombiniert mit systematischem und regelmäßig aktualisierten Wissen über den Verlauf des Krieges in der Ukraine. Dabei sollten auch gezielt aktuelle Diskussionen und Kontroversen der Öffentlichkeit aufgenommen werden, die aber vor Beginn des Sommersemesters kaum abzusehen waren. In das Seminar sollte daher Wissen um das aktuelle Geschehen systematisch integriert werden, auch über Leistungsnachweise von Studierenden.

Mit dem Seminar und seinen Inhalten waren mehrere didaktische Ziele verbunden: Eine sehr breite Auswahl an möglichen Prüfungsformen für die Studierenden nach deren Wahl, um angesichts der Aktualität des Themas eine Balance zu ermöglichen zwischen eher grundlagenorientierten und eher problemorientierten Prüfungsformen (letztere orientieren sich an der aktuellen politischen Entwicklung), die jedoch gleichwertig sein sollten.

Zusätzlich sollten die Studierenden nach mehreren Semestern online-Lehre in die Präsenzlehre überführt werden, und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gegeben werden, die gleichwertigen Prüfungsformen nicht nur nach inhaltlichen Interessen, sondern auch nach ihrer eigenen Einschätzung und ihren Kompetenzen auszuwählen. Auch für mich als Lehrende war nach den Corona-Jahren nicht unmittelbar deutlich, welche Kompetenzen und Prüfungsinteressen ich in einer diversen Kohorte von Studierenden erwarten konnte. Daher erschein mir eine Selbsteinschätzung der Studierenden über deren Prüfungswahl sinnvoll, um die Studierenden bei ihren jeweiligen Kompetenzen ‚abzuholen‘ und gleichzeitig sicherzustellen, dass sie bei entsprechendem Interesse eine Prüfungsform wählen können, die sie bisher im Studium noch nicht kennengelernt hatten.

Prüfungsformen und Kompetenzen

Im Seminar wurde das Standard-Portfolio als Prüfungsform angeboten (9CP Portfolio bestehend aus 4 SWS, 2 Referaten und 1 Hausarbeit), wobei einzelne Teile jedoch ausgetauscht werden konnten, um damit das Seminar inhaltlich zu bereichern, aber auch gleichrangige, doch individualisierte Portfolios zu ermöglichen.

Das Spektrum der Prüfungsleistungen reichte von regelmäßigen Briefings bis zum Lesen und Vorstellen eines Buches (als Ersatz für die Referate) oder dem semesterbegleitenden Schreiben und Vorstellen eines Policy-Papers (als Ersatz für die Hausarbeit). Die Auswahl ermöglichte auch eher theoretisch und eher praxis-orientierte Prüfungsformen, und die Kombinationsmöglichkeiten standen den Studierenden fast vollständig frei, was insgesamt in einer überdurchschnittlich motivierten Durchführung der einzelnen Prüfungen mündete. Zusätzlich ermöglichte das Format eine Präsenzlehre, die sich von Woche zu Woche unterschied, was die Lehre ebenfalls veränderte. Mit den Prüfungsformen wurde gezielt unterschiedlicher Kompetenz-Erwerb gefördert und Prüfungsformen angeboten, die unterschiedliche Formen inhaltlichen Engagements und zeitlicher Organisationsfähigkeit erfordern, z.B. lange Konzentration auf ein umfassendes Lernziel vs. mehrere kurze Phasen der Erarbeitung. Jede/r Studierende wurde in mindestens eine Gruppenarbeit im Lauf des Kurses eingebunden, um der möglicherweise während Corona erfahrenen Vereinzelung im Studium entgegenzutreten.

Organisatorisch sollte das Seminar starke Kontraste zwischen Online-Lehre und Präsenzlehre  schaffen, um die Stärken der Präsenzformate und der Präsenz-Prüfungsformen zu verdeutlichen. Insbesondere trugen einzelne Prüfungsformen des Portfolios dazu bei, dass die Sitzung regelmäßig mit Beiträgen von Studierenden eröffnet wurden, an die sich Diskussionen anschlossen. Die Sitzungsgestaltung war durch mich wesentlich ‚agiler’ (responsiver gegenüber den Beiträgen der Studierenden) gestaltet als üblich, und das Zeitmanagement war zusätzlich insofern herausfordernd, dass sich schnell herausstellte, dass die Studierenden die angebotenen Diskussions- und Austauschmöglichkeiten sehr gut annahmen und die Sitzungen stärker als viele Präsenzseminare vor Corona durch die (inhaltlich fundierten) Beiträge der Studierenden getragen wurden. Das mit dem Seminar verbundene organisatorische Ziel einer Gruppenbildung in einer heterogenen Studierendenschaft wurde damit ebenfalls erreicht. Dies förderte den lebhaften, aber respektvollen Austausch auch kontroverser Diskussionen, inklusive mit externen Referierenden.   

Das Seminar wurde meinerseits unterstützt von zusätzlichen Sprechstunden, um die teilweise unbekannten Prüfungsformen zu besprechen und einen guten Austausch zwischen mir als Lehrende und Studierenden sicherzustellen. Diese Angebote wurden gut genutzt, und sie gaben den Studierenden Vertrauen, sich auch auf aus ihrer Sicht ‚riskantere‘ (weil unbekannte) Prüfungsformen einzulassen. Eine Tutorin war (wie bei uns üblich) zusätzliche Ansprechpartnerin für die Studierenden, wenn sie Rückfragen zunächst lieber mit einer Studierenden (Peer) als mit mir als Dozentin besprechen wollten.    

Weitere Materialien:

 

Über die Autorin:

Anja P. Jakobi ist Professorin für Politikwissenschaft und Internationale Beziehung an der TU Braunschweig und Leiterin des dortigen Institutes für Internationale Beziehungen.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2023 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Lena Partzsch für ihr Lehrprojekt „Stockholm+50: Fünf Jahrzehnte globaler Umweltpolitik“ im Sommersemester 2022 an der Freien Universität Berlin verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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