Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

(Gießener) Frauen im Nationalsozialismus

Autorin: Randi Becker

Im Sommersemester 2021 bot die Soziologin Randi Becker im Modul „Grundmodul Politikwissenschaften“ in den Grundwissenschaften des Lehramts im Bereich Politikwissenschaften ein Seminar mit dem Titel „Frauen im Nationalsozialismus“ an.
Das Seminar fand mitten im Lockdown digital jeden Mittwochabend synchron über Microsoft Teams statt. Im Seminar waren 50 Personen angemeldet. Das Seminar vermittelte Grundlagen zum Einstieg in das komplexe Thema „Frauen im Nationalsozialismus“ und widmete sich so in verschiedenen inhaltlichen Blöcken

  1. den Verknüpfungen von Geschlechterbildern und der NS-Ideologie, wie etwa Verbindungen zwischen NS-Antiziganismus und Antisemitismus mit Geschlecht,
  2. verschiedenen Facetten geschlechtsspezifischer Verfolgung, etwa der Verfolgung lesbischer oder als „asozial“ stigmatisierter Frauen, sowie Frauen, die zur Sexzwangsarbeit gezwungen wurden, und
  3. Fragen der Täter*innenschaft von Frauen im Nationalsozialismus.

Struktur und Arbeitsweise

Die Teilnehmer*innen arbeiteten parallel zur Auseinandersetzung mit den Grundlagen eigenständig an der Recherche von Biografien von Frauen aus Gießen und Umgebung im Nationalsozialismus. Die Recherchen wurden durch die Dozentin detailliert vorbereitet: so wurde den 50 Studierenden zu Beginn des Semesters bereits ein Name zugeteilt, sowie Ergebnisse der Erstrecherche (mögliche Quellen bereits gescannt, Akten bereits beantragt etc.) zur Verfügung gestellt. Die Teilnehmer*innen wurden dann, begleitet durch regelmäßige Einzelsprechstunden, durch die Dozentin durch die Recherche geleitet und stellten ihre Zwischenergebnisse fortlaufend auch im Seminar vor.

Die Teilnehmer*innen erwarben so Grundkenntnisse zu Geschlechterverhältnissen im Nationalsozialismus, konnten diese aber auch ganz konkret anhand der biografischen Recherchen anhand einer Person nachvollziehen. Viele Studierenden äußerten, gerade durch die Arbeit mit Biografien von Personen, die ggf. an Orten des heutigen alltäglichen Lebens der Studierenden gelebt hatten und dort verfolgt worden waren, einen ganz neuen Zugang zum Thema Nationalsozialismus erhalten zu haben. Aus diesen Recherchen entstand so eine umfassende Arbeit zu Gießener Frauen im Nationalsozialismus, die mithilfe von Kooperationspartner*innen (dem Projekt „Proaktiv gegen Antisemitismus“ des Netzwerks für politische Bildung, Kultur und Kommunikation e.V. sowie mit Unterstützung des Landesprogramms “Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus” und der Gemeinnützigen Stiftung der Sparkasse Gießen) gedruckt werden konnte. Korrektorat, Lektorat und Satz übernahm dabei die Dozentin in enger Absprache mit den Teilnehmer*innen. Die Broschüre konnte so im November 2022 in einer Auflage von 1000 Stück gedruckt werden und wurde durch die Dozentin und 7 beteiligte Autor*innen im Dezember 2022 öffentlich vorgestellt.

Abbildung 1: Broschüren und Werbematerial, Quelle: Randi Becker

Lernerfolg und Wirkung

Besonders hervorzuheben ist, dass dieses Projekt auf ganz unterschiedlichen Ebenen Lernerfolge ermöglichte: Zum einen profitieren die Studierenden durch die biografischen Recherchen immens vom Seminar: die Auseinandersetzung mit einer konkreten Frau ermöglichte eine viel intensivere und persönlichere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Das Engagement, das fast alle Teilnehmer*innen in ihre Recherchen steckten, hat die Erwartungen der Dozentin um ein Vielfaches übertroffen, berichteten doch viele Teilnehmer*innen, dass sie das Thema so gepackt habe, dass sie ein Vielfaches mehr an Büchern (freiwillig) lasen, als sie für eine normale Hausarbeit gelesen hätten, dass sie freiwillig Archive besuchten, dass sie die Recherche auch nach Seminarende nicht losließ. Auch die Möglichkeit, so eine erste kleine Publikation zu veröffentlichen, Rückmeldung durch die Dozentin zu bekommen, und das Ergebnis auch öffentlich mit vorstellen zu dürfen, hat viele Studierende besonders gefreut. Das Engagement, das die Autor*innen auch nach der Veröffentlichung noch in Form von freiwilliger Teilnahme an Vorstellungen der Broschüre investieren, zeugt von einem nachhaltigen Lernerfolg durch das Projekt und beeindruckendes Engagement. Zum anderen leistete und leistet die Broschüre auch einen besonderen Beitrag für die außerakademische Öffentlichkeit, etwa innerhalb der lokalen Erinnerungskultur: durch die erste breite Abbildung verschiedenster Biografien von „Gießener Frauen im NS“ werden verschiedene Opfergruppen, die geschlechtsspezifisch verfolgt waren, aber auch beteiligte Täter*innen mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.

Abbildung: Inhaltsverzeichnis der Broschüre „Gießener Frauen“ (2022)

Gleichzeitig ist die Broschüre so konzipiert, dass sie mit den kurzen, doppelseitigen Beiträgen, in möglichst einfacher Sprache, auch für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit geeignet ist: sie kann anhand der Karte zu Anfang und der Stopps in der Stadt, die den Biografien zugeordnet sind, als Grundlage für individuelle Stadtrundgänge mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten genutzt werden.

Abbildung 3: Broschüre „Gießener Frauen“ (2022), Seite 7 und 8: Karte mit allen Stops, um individuelle Stadtrundgänge zu planen

Sie ist so nicht nur eine besondere Publikation für die Studierenden oder die bereits historisch gebildete Fachöffentlichkeit, sondern soll auch Jugendliche und junge Erwachsene ansprechen und die lokalen Bezüge der Stadt zum Nationalsozialismus sichtbarer machen. Vorstellungen an Gießener Schulen im Jahr 2023 haben gezeigt, dass die Broschüre, wie intendiert, auf großes Interesse von Lehrkräften stößt. Das Projekt wurde mit der öffentlichen Vorstellung des Ergebnisses im Winter 2022 abgeschlossen, jedoch sind weitere öffentliche, wie nicht-öffentliche Vorstellungen mit Beteiligung der Autor*innen in 2023 durchgeführt worden, weitere sind in Planung.

Abbildung 4: Broschürenvorstellung im Dezember 2022, v.l.n.r.: Debora Peppel, Michelle Damm, Lea Bittner, Katharina Spies, Randi Becker, Jacqueline Klingelhöfer, Eileen Gebhardt, Niuscha Plikat, Quelle: Randi Becker

Auch durch Interviews und Artikel in den Gießener Lokalzeitungen Gießener Allgemeine und Gießener Anzeiger, gewann das Projekt eine große Sichtbarkeit im Landkreis Gießen. Der Druck einer 2. Auflage ist im Herbst 2023 geplant.

Exemplare der Broschüre sind kostenlos erhältlich und können per E-Mail bestellt werden. bestellbar.

 

Über die Autorin:

Randi Becker studierte Sozialwissenschaften, Soziologie und Politische Theorie in Gießen, Darmstadt und Frankfurt am Main. Sie arbeitet hauptamtlich als Dozentin für politische Bildung in der Erwachsenenbildung. Sie promoviert an der Universität Passau und lehrt an verschiedenen Universitäten im Rahmen von Lehraufträgen etwa zu Frauen im Nationalsozialismus, Kritischer Theorie und Geschlecht, oder Antisemitismus und Geschlecht.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2023 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Lena Partzsch für ihr Lehrprojekt „Stockholm+50: Fünf Jahrzehnte globaler Umweltpolitik“ im Sommersemester 2022 an der Freien Universität Berlin verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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