Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Akademische Lehr- und Forschungsreise Internationales Recht und Politik in der Praxis nach Jordanien (Frühjahrstrimester 2023, 13.-21. Mai)

Autoren: Stephan Stetter und Jan Busse

Die Analyse innerstaatlicher, trans- und internationaler Konflikte sowie von peacebuilding in (post-) Kon?iktregionen ist zentraler Bestandteil vieler Studiengänge in den Internationalen Beziehungen (IB), nicht zuletzt unter Bezugnahme auf Konzepte und Theorien der (interdisziplinären) Friedens- und Konfliktforschung. Dies beinhaltet sowohl das Studium einschlägiger allgemeiner Fachliteratur zu diesen Themenfeldern als auch die Analyse spezi?scher Kon?ikte und peacebuilding Initiativen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in verschiedenen Weltregionen. Eine Verzahnung mit praktischem Wissen, das vor Ort in (Post-) Kon?iktregionen gewonnen wird, hat hingegen nicht zuletzt aufgrund organisatorischer und finanzieller Begrenzungen eine zumeist geringere Bedeutung. Die interdisziplinäre akademische Lehr- und Forschungsreise (LFR) nach Jordanien 2023 versuchte, aufbauend auf einem methodisch und didaktisch seit vielen Jahren erprobten Lehrkonzept, eine Verzahnung von Theorie und Praxis mit Blick auf die Analyse von Kon?ikten und peacebuilding in (Post-) Kon?iktregionen. Die LFR wurde im Frühjahrstrimester 2023 im Rahmen des MA Studienganges Staats- und Sozialwissenschaften, Vertiefungsrichtung „Internationales Recht und Politik“ an der Universität der Bundeswehr München durchgeführt.

Die LFR 2023 fand im 2. Trimester des MA-Studienganges als Teil des Wahlp?ichtmoduls „Internationales Recht und Internationale Politik in der Praxis“ statt und wurde unter Leitung von Prof. Dr. Stephan Stetter und Dr. Jan Busse (Internationale Politik und Kon?iktforschung) sowie Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan und Dr. Donald Riznik (Internationales Recht und Europarecht) durchgeführt. Sie umfasste 4 Trimesterwochenstunden und wurde mit 7 ECTS-Punkten auf das Studium angerechnet. An der LFR 2023, die vom 13.-21. Mai 2023 durchgeführt wurde, haben die o.g. vier Lehrenden sowie 22 Studierende des MAs teilgenommen.

Die LFR sind integraler Bestandteil des o.g. Studienganges und werden jährlich federführend von den beiden oben genannten Professuren durchgeführt. Jedes Jahr werden andere (Post-) Kon?iktgebiete besucht (für einen Überblick aller bisherigen Reisen siehe https://go.unibw.de/7m). Der Kerngedanke der LFR ist es, den Studierenden auf Grundlage des zuvor im BA und MA (1) erworbenen fachspezi?schen Wissens zur Analyse von Kon?ikten und peacebuilding in den IB, dem Internationalen Recht sowie der Friedens- und Kon?iktforschung, die Praxisrelevanz dieses Wissens in einer (Post-) Kon?iktregion zu vermitteln. Unter anderem können die Studierenden auf diese Weise das im Studiengang erworbene Fachwissen zu historisch-soziologischen Theorien in den IB (Stetter, Busse), den rechtlichen Rahmenbedingungen internationaler Politik (z.B. UN Charta, Seerecht, Menschenrechte, Kriegsvölkerrecht, internationale Tribunale) und internationaler Missionen und von in Kon?iktgebieten tätigen internationalen Organisationen (Khan, Riznik) als auch die Bedeutung von Versicherheitlichungsprozessen auf lokaler, nationaler und regionaler Ebene (Stetter, Busse) durch Vorträge, Besichtigungen, Gesprächen und Beobachtung von Alltagspraktiken während der LFR abgleichen, hinterfragen und vertiefen. Nicht zuletzt baute die LFR 2023 auch auf der Nahostexpertise von Prof. Dr. Stephan Stetter und Dr. Jan Busse auf, die beide schwerpunktmäßig zu dieser Region forschen und lehren sowie über intensive wissenschaftliche und gesellschaftliche Kontakte in der Region und Jordanien im Speziellen verfügen.

Die Antragsteller werben seit 2015 erfolgreich Haushaltsmitel der Universität der Bundeswehr für die jährliche Durchführung der LFR ein. Die LFR 2023 kann als konkreter und nachhaltiger Brückenschlag zwischen im Studium erworbenem interdisziplinärem Fachwissen einerseits und der Praxis politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Dynamiken in (Kon?ikt-) Regionen andererseits verstanden werden.

Für die Studierenden lag nach unserer Einschätzung der Wert der LFR 2023 auf drei Ebenen. Erstens war die Reise eine einmalige Möglichkeit, das im Studium durch Fachliteratur erworbene Wissen durch eigene Anschauung vor Ort und mit dem Blick auf konkrete Kon?iktlagen in Jordanien und im geopolitisch so bedeutsamen Raum des Nahen Ostens zu reflektieren. Zweitens führte die intensive Beschäftigung mit diesem spezi?schen Raum dazu, dass mehrere Studierende thematische Anregungen entweder empirischer oder theoretischer Natur erfahren haben, die sie in ihren MA-Arbeiten (Abgabe August 2024) weiterführen konnten. Drittens erlebten die Studierenden, die als O?zierinnen und O?ziere der Bundeswehr zukünftig auch als militärische Führungskräfte in internationalen Missionen (UN, NATO, EU) zum Einsatz kommen werden, die Komplexität von Versicherheitlichungsprozessen vor Ort und erwerben so wichtiges Praxiswissen, das als Qualitätsmerkmal der verp?ichtenden akademischen Ausbildung des deutschen O?zierskorps verstanden werden kann. Nicht zuletzt ein Besuch bei den jordanischen Streitkräften an der Grenze zu Syrien, deren Einsatz von der Bundesregierung und der Bundeswehr personell und mit Blick auf Material (z.B. Aufklärung) stark unterstützt wird, bot eine eindrucksvolle Praxiserfahrung mit dem Thema internationale Sicherheit. Wir sind fest davon überzeugt, dass die durch die LFR vermittelten Erkenntnisse einen nachhaltigen Eindruck bei den Studierenden hinterlassen haben und eine überaus wichtige Ergänzung des im Studium über die Fachliteratur vermittelten Wissens darstellen.

Dem interdisziplinären Charakter des Studiengangs und des Lehr- und Forschungspro?ls der beteiligten Lehrkräfte entsprechend, spielten bei der Programmgestaltung die historischen, rechtlichen, politischen aber sowie sozialen, kulturellen und ökonomischen Aspekte der Kon?ikt- oder Post-Kon?iktkonstellationen in Jordanien und dem Nahen Osten (historisch die osmanische Zeit und die britische Mandatszeit sowie die Unabhängigkeit des Landes und seine regionalen Beziehungen zu arabischen Staaten, den Palästinensern und Israel) eine wichtige Rolle. Die Studierenden setzten sich vor Ort mit diesen konkreten Kon?iktdynamiken und Fragen des Versicherheitlichung auseinander, befragten Entscheidungsträger und traten mit Betro?enen ins Gespräch, sowohl während der formellen Programmpunkte, als auch bei Gesprächen und Erkundungen außerhalb des o?ziellen Programms. Neben Diskussionsrunden mit Vertretern nationaler Regierungen, internationaler Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und anderen Repräsentanten der Zivilgesellschaft spielte der Besuch von mit Blick auf Kon?ikte zentralen Orten (z.B. die militärische Absicherung der Grenze zu Syrien im jordanischen Norden, über die in großem Ausmaße Drogen und Wa?en geschmuggelt werden) eine wichtige Rolle bei der Vermittlung praxisbezogenen Wissens. Auf dem Programm standen auch Gespräche mit Vertretern der Deutschen Botschaft, zahlreichen Vertretern jordanischer NGOs und Think Tanks, Vertretern der UN (UNRWA sowie UNHCR) sowie – für die Studierenden von besonderer Bedeutung – der Bundeswehr (ein im jordanischen Generalstab eingebetteter Oberstleutnant der Bundeswehr).

In didaktischer Hinsicht wurde die LFR 2023 als eine Heranführung der Studierenden an praxisorientierte Forschung (practice-based research) konzipiert. Die Studierenden bekamen, erstens, zentrale Formate für den Wissenserwerb vor Ort (akademische Staddtührungen mit Fokus auf Kon?iktaspekte durch lokale Expertinnen/Experten, roundtables und on-site visits mit Persönlichkeiten aus Politik, Medien, Wissenschaft, Militär und Zivilgesellschaft) vermittelt und konnten, zweitens, durch ihre aktive Mitarbeit während der Reise (etwa Rückfragen an Kooperationspartner vor Ort) ihr Wissen aktiv einbringen und weiterentwickeln.

In methodischer Hinsicht orientierte sich die LFR 2023 am Konzept des inverted classrooms. Ein zentrales Instrument hierfür war ein Reader, der die Lehrenden und Studierenden auf der Reise begleitet hat. Die einzelnen Programmpunkte wurden durch die Lehrenden ausgewählt und die Tre?en vor Ort entsprechend organisiert. In mehreren Vorbereitungstre?en ab Januar 2023 wurden die Studierenden auf die Inhalte der Reise vorbereitet. Im Februar 2023 wurden den Studierenden 22 Themen mit direktem Bezug zum Themenfeld Kon?ikt und Sicherheit in Jordanien vorgestellt und einzeln zugelost. Jede und jeder Studierende hat zu dem zugelosten Thema in einem ersten Schritt den Lehrenden im März 2023 fünf einschlägige wissenschaftliche Texte vorgeschlagen, deren Qualität durch die Lehrenden bewertet wurde und auf deren Basis der im Reader einzusehende Essay zum zugelosten Thema geschrieben werden sollte. Nach dem Feedback der Lehrenden zur vorgeschlagenen Fachliteratur und einer entsprechenden Nachbereitung haben die Studierenden auf Basis einer einheitlichen Formatvorlage ihren Essay im Vorfeld der LFR geschrieben. Die Studierenden haben sich so mit einem spezi?schen Thema bereits vor Beginn der LFR intensiv auseinandergesetzt. Sie wurden so in die Lage versetzt, auch andere, neue Sachverhalte im Kontext der LFR besser einzuordnen. Zugleich lernten die Studierenden auf diese Weise voneinander, da die im Reader gebündelten Essays eine wichtige Informationsquelle während der LFR für alle Teilnehmenden darstellten. Während der LFR fand dann an geeigneter thematischer Stelle ein ca. 10-15-minütiger Vortrag des/der Studierenden zu dem jeweiligen Thema stat. Die Lehrenden haben während der gesamten Reise die Essays und einzelnen Programmpunkte mit Blick auf übergeordnete allgemeine Konzepte und Theorien der IB, des Internationalen Rechts sowie der Friedens- und Kon?iktforschung kontextualisiert. Der Essay, der mündliche Vortrag sowie die allgemeine Mitarbeit während der LFR bildeten die Note für die Lehrveranstaltung.

(1) Die Universität der Bundeswehr München ist eine zivile Universität des Bundes, mit der Besonderheit, dass die Studierenden in der Regel O?zierinnen und O?ziere der Bundeswehr sind. Das Studium mit dem Regelabschluss MA ist Voraussetzung für die O?zierstätigkeit und integraler Bestandteil der 13-jährigen Dienstverp?ichtung. Die akkreditierten Studiengänge des BA und MA Staats- und Sozialwissenschaften werden bei gleicher Anzahl von ECTS-Punkten wie in Landesuniversitäten im Schnellstudium (= Trimestersystem) absolviert und sind konsekutiv angelegt. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der LFR haben vor dem MA auch den BA Staats- und Sozialwissenschaften (Vertiefung Internationales Recht und Politik) studiert.

 

 

  

Über die Autoren: 

Die LFR wurde durchgeführt von den Professuren für Internationale Politik und Konfliktforschung (Prof. Dr. Stephan Stetter und Dr. Jan Busse, beide mit Schwerpunkt Naher Osten in ihrer Forschung) sowie der Professur für Internationales Recht und Europarecht (Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan und Dr. Donald Riznik).

 

 

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2024 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Sandra Destradi für ihr Lehrprojekt „How to Study the International Effects of Populism”, durchgeführt im Sommersemester 2023 an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg,  verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

 

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