Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Beyond Democracy – Krisen und Konkurrenten im 21. Jahrhundert

Autoren: Marius Minas und Oliver Drewes

Im Wintersemester 2023/24 boten wir im Bachelor-Aufbaumodul „Vergleichende Regierungslehre“ ein Seminar an mit dem Titel „Beyond Democracy – Krisen und Konkurrenten im 21. Jahrhundert“ (mit zwei Sitzungen pro Woche, 4 SWS) an. Die Ausgangsfragestellung und Motivation, die sich für uns in der Lehrplanung ergab, war, dass in der politikwissenschaftlichen Analyse viel über verschiedene „Krisen der Demokratie“ diskutiert bzw. die „Polykrise“ konstatiert wird, dem sich aber eine Folgefrage anschließt, die häufig nicht besprochen wird: Wenn eine Krise das Worst-Case-Szenario annimmt, was sind dann die alternativen Herrschaftsformen in die sich die Demokratie sich mittel- und langfristig entwickeln kann? Zwar sind Formen wie die der „illiberalen“ oder „defekten“ Demokratie in einer Systemtransformation zunächst am (empirisch) naheliegendsten, aber welche Herrschaftsformen sind darüber hinaus im 21. Jahrhundert in Deutschland möglich, wie kämen wir dahin und wie sähe das konkret aus? Unabhängig von der Wahrscheinlichkeit wollten wir neben verschiedenen Krisendiagnosen auch über nicht-demokratische Herrschaftsformszenarios in Deutschland sprechen und damit die Regierungslehre aus dem abstrakten Raum in die (modellierte) Realität holen. Zu diesem Zweck wollten wir Künstliche Intelligenz einsetzen und ein nicht-demokratisches Deutschland modellieren (lassen). Viel wird über ChatGPT und Co. gesprochen und das Potenzial, die universitäre Lehre (und Forschung) umzukrempeln. Wir wollten sehen, ob sich KI in der politikwissenschaftlichen Lehre und in Prüfungsformaten sinnvoll einsetzen lassen kann und wie wir Kompetenzen im Umgang mit KI fördern können.

Wir haben das Semester in zwei thematische Blöcke geteilt: In der ersten Hälfte ging es zunächst um verschiedene Krisendiagnosen: Moralisierung, Epistemisierung, Polarisierung, 

Repräsentationsdefizite, Ungleichheit sowie Unwahrheit. In der zweiten Hälfte des Semesters haben wir nicht-demokratischen Herrschaftsformen thematisiert: Totalitarismus, Oligarchie, Kommunismus, Theokratie, Epistokratie und Algokratie (im Sinne der Herrschaft durch KI). Dadurch, dass das Seminar im Aufbaumodul angesiedelt war, hatte es mit zwei Sitzungen pro Woche einen großen Umfang. Wir teilten die beiden Sitzungen pro Woche in eine Theorie- und eine Praxissitzung auf. In den Theoriesitzungen ging es in der ersten Semesterhälfte um die genannten Krisen der Demokratie. Hier wurden politikwissenschaftliche Texte diskutiert und in ihre abstrakte Krisendiagnose eingeführt. Gleiches Vorgehen galt für die Theoriesitzungen im Hinblick auf die nicht-demokratischen Herrschaftsformen. In den Praxissitzungen sollten diese abstrakten Inhalte konkretisiert und mit der Realität verbunden werden. Wo lassen sich im alltäglichen politischen Diskurs Ereignisse oder Entwicklungen bemerken, die der ein oder anderen Krisendiagnose entsprechen? Hierzu konnten die Studierenden in Kleingruppen von drei bis fünf Mitgliedern eine Krisendiagnose auswählen und über fünf Praxissitzungen hinweg einen kurzen Artikel schreiben, der diese Krisendiagnose mit konkreten Entwicklungen oder Ereignissen verband. Diese Artikel stellten nicht nur eine Studienleistung des Seminars dar, sondern konnten (unter gewissen Qualitätsanforderungen) auch im „Politikwissenschaftlichen Jahresrückblick 2023 des Trierer Institut für Demokratie- und Parteienforschung“ neben Artikeln der Institutsmitglieder publiziert werden. Die Möglichkeit der Publikation haben vier von sechs Gruppen am Ende auch gerne (und auch etwas stolz) wahrgenommen [1].

In den Praxissitzungen zu den (theoretisch) denkbaren Systemkonkurrenten haben wir zunächst das Prompting mit den Studierenden geübt. Die Anwendung und der schließlich zielorientierte Einsatz von ChatGPT (und weiteren derartigen Tools) war zunächst keine Trivialität – weder für die Studierenden noch für uns. Insofern hatte das Seminar einen experimentellen und explorativen Charakter bezüglich des Einsatzes von KI in der politikwissenschaftlichen Lehre. Im Laufe der Praxissitzungen haben wir versucht, z.B. eine Epistokratie in Deutschland in naher Zukunft zu modellieren. Das heißt, wir haben in Kleingruppen die KI beauftragt, die in den Theoriesitzungen erarbeiteten Merkmale, Funktionslogiken, Organe, etc. der jeweiligen Herrschaftsformen in ein Szenario für Deutschland zu gießen: Neben einer sehr langen Beschreibung erarbeiteten wir auch visuell mit KI Darstellungen dieser Szenarien. Am Ende einer jeden solchen Sitzung präsentierte jede Kleingruppe a) wie sich Deutschland (so realistisch wie möglich) z.B. einer Theokratie nähert, b) wie diese dann institutionell und legitimatorisch funktioniert und c) warum Menschen in Deutschland in diesem System (nicht) gerne leben wollen würden. Damit unser Seminar keine subversiven oder revolutionären Tendenzen entwickelt, haben wir zum Ende des Semesters die alternativen Herrschaftssysteme mit der Demokratie im Status Quo (im Rekurs auf die Krisendiagnosen) und in der idealen Theorie abgeglichen und abwiegen lassen.

Um das digitale Co-Working in den Praxissitzungen am besten umsetzen zu können, griffen wir in den wöchentlichen Praxissitzungen auf den neu eröffneten sogenannten „Future-Learning-Space“ der Universität zurück. Dieser Seminarraum enthält an jedem Gruppentisch einen großen Flatscreen mit dem sich verbunden und so gemeinsam an einem Dokument bzw. einer KI-Anwendung gearbeitet werden kann. Weitere technische Möglichkeiten des Raumes (u.a. digitale Verknüpfung und zentrale Steuerung aller Bildschirme)  unterstützten dieses Arbeitsformat.

Sowohl den Studierenden als auch uns hat das Seminar trotz der hohen Dichte sehr viel Freude bereitet (das geht deutlich aus der Lehrevaluation hervor). Konsequenterweise durften die Studierenden KI auch in ihren Hausarbeiten verwenden. Hier führen wir derzeit noch eine Umfrage unter den Studierenden durch, um zu evaluieren, wie das a) funktionieren kann, b) die Möglichkeit angenommen und umgesetzt wird und c) was das zukünftig für Lehr- und Prüfungsformate in der (politikwissenschaftlichen) universitären Lehre bedeutet. Spoiler: Sehr viel.

 

 

[1] Den Politikwissenschaftlichen Jahresrückblick 2023 des Trierer Instituts für Demokratie- und Parteienforschung finden Sie kostenlos zum Download hier bzw. auf der Homepage des TIDuP. Die Studierendenbeiträge sind auf den Seiten 50-59 zu finden.

 

 

 

 

 

Über die Autoren:

Marius Minas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier und promoviert dort derzeit zu Idealvorstellungen der Persönlichkeit von Parteivorsitzenden aus Sicht der Mitglieder.

Oliver Drewes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier und untersucht in seinem Promotionsprojekt Verschwörungstheorien und die Konstruktion eines neuen Extremismustyps durch Nachrichtendienste in Europa.

 

 

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“

Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2024 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Sandra Destradi für ihr Lehrprojekt „How to Study the International Effects of Populism”, durchgeführt im Sommersemester 2023 an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg,  verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

 

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