Autor: Michael Pollok
Für die wissenschaftliche Beantwortung von Forschungsfragen ist eine robuste und nachvollziehbare Methodik unerlässlich. Das gilt sowohl für quantitative als auch qualitative Forschungsdesigns. Besonders herausfordernd wird die Auswahl einer geeigneten Methodik dann, wenn das Forschungsfeld noch wenig bekannt ist. Die Grounded Theory Methodology ist ein Forschungsstil, der unterschiedliche Methoden integriert und versucht, tragfähige Verbindungen zwischen zuvor Bekanntem und dem bisher Unbekannten zu knüpfen.
Um sich der Methodik zu nähern, begann das Lehrprojekt mit grundlegenden Überlegungen zu induktiven und deduktiven Forschungsstilen in der Sozialwissenschaft allgemein, sowie der Politikwissenschaft im Besonderen. In einem nächsten Schritt wurden die Besonderheiten einer Grounded Theory Methodology und die damit verbundenen Erhebungs- und Analysetechniken herausgearbeitet. Im Anschluss daran wurden die Erkenntnisse aus diesem konzeptionellen Block auf einen empirischen Fall angewendet und erprobt: Es gab die Möglichkeit an bisher unveröffentlichtem Rohmaterial aus Feldforschungen der Lehrperson zur nachhaltigen Mobilitätspolitik zu arbeiten und an der konkreten Erkenntnis- und Theorieproduktion mitzuwirken. Darüber hinaus wurden im Rahmen von Exkursionen im Untersuchungsfeld eigene Daten durch die Studierenden erhoben und analysiert.
Besonders innovativ ist die Lehrveranstaltung – ganz im Sinne der Entwickler der Grounded Theorie Methodology Anselm L. Strauss und Barney Glaser – da die Studierenden sich nicht nur als Theorietestende sondern als Theorieproduzierende verstehen (Strauss/Corbin 1967). Von dieser produktiven Methodenausbildung profitieren nicht nur die Studierenden, sondern auch die Lehrperson: Im Zuge der Analysearbeit durch die Studierenden kann die Reliablität des eigenen methodischen Vorgehens überprüft werden. Darüber hinaus besteht die Option Ergebnisse aus dem Seminar gemeinsam zu publizieren und den Studierenden so einen Einblick in den gesamten Forschungsprozess zu geben. Den Studierenden soll die Lust und der Impact wissenschaftlichen Arbeitens vermittelt werden.
Ein zentraler Anspruch des Seminars ist somit, in kollegialer Atmosphäre und im Sinne des ko-kreativen, forschenden Lernens neue Erkenntnisse zu produzieren. Die Studierenden erhalten Methoden- und Softwarekompetenzen, die Lehrperson erhält wichtiges Feedback und neue
Erkenntnisse für die eigene Empiriearbeit. Es geht also um das gegenseitige, kollegiale Impulsgeben zwischen Lehrenden und Studierenden, die ihre jeweiligen Sichtweisen und Expertisen in reflektierter Art und Weise zum Ausdruck bringen und festhalten.
Es sollte gezeigt werden, dass die Methodenausbildung kein lästiges Pflichtmodul des universitären Kurrikulums sein muss, sondern ganz im Gegenteil erst die besonderen Zugänge der Disziplin auf die empirische Wirklichkeit ermöglicht. Die Lehrperson konnte dabei der eigenen, präferierten Rolle als kollegialer Mentor nachkommen, der sichere Räume schafft für Studierende, die ein Interesse haben sich akademisch mit politischer Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Dabei gab es den Anspruch nicht in eine Verantwortungsfalle zu geraten: Von den Studierenden wurde erwartet, dass diese einen hohen Grad an Eigeninitiative zeigen. Diese Anforderungen wurden stets transparent gemacht und regelmäßig kommuniziert. Gerade im politikwissenschaftlichen Seminar ist eine solche Haltung zentral, denn „im Gegensatz zur Vorlesung ist das Seminar ein Ort gemeinsamen Denkens und Arbeitens, der durch die offene Interaktion der Beteiligten, sowohl Lehrender wie auch Studierender lebendig wird“ (Centena Carcía 2019; zitiert in Klöck 2023). Dabei geht es darum das politikwissenschaftliche Handwerkszeug zu vermitteln und eine wertschätzende, aber auch anspruchsvolle Disziplinierung der Studierenden in einem focussed setting zu ermöglichen.
Sowohl die Lehrperson als auch die Studierenden haben dabei mindestens noch eine weitere Rolle inne, indem als Öffentlichkeit die eigene Situiertheit in den Forschungs- und Lehrprozess eingebracht wird und erlernt wird, wie diese kritisch im Zuge der strukturierten Produktion von Wissen reflektiert werden kann. Als Blaupause dienen dabei zwei ganz zentrale, sozio-kulturelle Arbeitstechniken des Wissenschaftsbetriebs: Die Peer-Review und das Kolloquium. Der wesentliche Unterschied zwischen Lehrenden und Studierenden besteht selbstredend in der Rolle der Lehrenden als Prüfende. Gleichzeitig ist der wissenschaftliche Alltag aber auch immer durch ähnliche Prüfungssituationen geprägt: Sei es bei der Antragsstellung für Drittmittel oder die kollegialen Prüfungen von Peer-Reviewern. Somit entspricht das forschende Lernen dem Defaultsetting der politikwissenschaftlichen Alltagswelt: Arbeit mit empirischen Material, Textarbeit, Austausch mit Peers, und ko-kreative, iterative Produktion und Optimierung von Texten, die politische Wirklichkeit abbilden.
Referenzen
Glaser, Barney G.; Strauss, Anselm L. (1967): The discovery of grounded theory: strategies for qualitative research. Aldine: New York.
Klöck, Carola (2023): Seminare in der politikwissenschaftlichen Lehre gestalten. Wochenschau Verlag: Frankfurt am Main.
Weitere Materialien:
Über den Autor:
Michael Pollok ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in Bonn und promoviert dort sowie an der Universität Münster zu nachhaltigen Mobilitätskulturen in Mittelstädten.
Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2024 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Sandra Destradi für ihr Lehrprojekt „How to Study the International Effects of Populism”, durchgeführt im Sommersemester 2023 an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg, verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen
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