Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Empirische Sozialforschung

Autoren: Maik Hamjediers, Ferdinand Geißler, Frederik Thieme und Tim Wappenhans

Konzept und Ziele

Kausale Inferenz ist ein wesentlicher Bestandteil für die moderne Politikwissenschaft. Die Veröffentlichungsrate von Studien, die sowohl die Methodik der kausalen Inferenz verfeinern als auch sie zur Klärung spezifischer Forschungsfragen einsetzen, steigt stetig. Angefangen bei experimentellen Ansätzen bis hin zu kausalen Identifikationsstrategien für Beobachtungsdaten, ist ein fundiertes Verständnis der kausalen Inferenz unabdingbar, um quantitative Forschung in der Politikwissenschaft adäquat zu interpretieren und kritisch zu bewerten. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, die Methodenlehre an der Humboldt-Universität zu Berlin grundlegend zu überarbeiten. Unser Ziel ist es, den Studierenden nicht nur theoretisches Wissen zu vermitteln, sondern ihnen auch praktische Erfahrungen im Design und der Durchführung von Experimenten sowie in der Nutzung von Beobachtungsdaten für das Ziehen kausaler Schlüsse zu ermöglichen. Damit reiht sich der Kurs in die methodische Grundausbildung der Bachelor-Studierenden ein, die zusätzlich Methoden wissenschaftlichen Arbeitens, deskriptive Statistik, Inferenzstatistik, Regressionsmodelle und qualitativen Methoden umfasst.

Das primäre Ziel des Kurses lag darin, den Studierenden einen grundlegenden und anwendungsorientierten Einblick in die Methodik und die theoretischen Grundlagen der politikwissenschaftlichen Forschungspraxis sowie der kausalen Inferenz zu verschaffen. Besonderer Wert wurde auf die praktische Umsetzung gelegt. Im ersten Abschnitt des Kurses entwickelten die Studierenden in kleinen Teams eigene experimentelle Studien und Untersuchungsinstrumente, die in einer eigenen Online-Erhebung eingesetzt wurden (N=1500). Der zweite Teil konzentrierte sich auf die Auswertung dieser Experimente sowie die Replikation bereits publizierter Studien unter Verwendung der originalen Datensätze. So gewinnen die Studierenden erste Erfahrungen mit eigenen Forschungsprozessen und erhalten gleichzeitig Einblick in die Realität quantitativer politikwissenschaftlicher Forschung. 

Es war uns wichtig, den Studierenden einen Zugang zu diesen Themen zu bieten, der zwar fundiert, jedoch nicht übermäßig technisch ist. Durch direkte Anwendung sollten sie nicht nur motiviert werden, ihre eigenen Kompetenzen zu entdecken und zu schärfen, sondern auch erkennen, dass sie das notwendige Rüstzeug besitzen, um aktuelle Literatur kritisch einzuordnen und eigenständig zur Forschung beizutragen. Zudem wurden Präsentations- und Feedback-Fähigkeiten durch wiederholte Integration von Peer-Review-Formaten in die Lehre geschärft.

Erfolge

Die Veranstaltung wurde von einem vollständigen Jahrgang an Studierenden (circa 150) erfolgreich absolviert. Die Studierenden haben in 28 Gruppen eigene Forschungsfragen entwickelt und Survey-Experimente zum politischen Leben von Studierenden konzipiert, durchgeführt und ausgewertet. Dabei haben sie eine Reihe spannender Forschungsfragen untersucht, angefangen bei der mobilisierenden Wirkung von Social-Media-Posts, über die Legitimitätswahrnehmungen verschiedener Protestformen und die Förderung der politischen Partizipation an Hochschulen durch gezielte Informationsbereitstellung, bis hin zu den Auswirkungen von Medien-Framing auf die politische Selbstwirksamkeit.

Zudem haben alle Teilnehmenden erstmals veröffentlichte politikwissenschaftliche Forschung mithilfe der Originaldaten repliziert und kritisiert. Somit wurde der Kohorte bereits früh im Grundstudium (2. und 3. Fachsemester) eine anwendungsbezogene Einführung zu quantitativer Forschung und kausaler Inferenz in der Politikwissenschaft gegeben. Zwei Drittel der Studierenden geben an, im Zuge des Kurses ihre Fähigkeiten in der Durchführung quantitativer Analysen in der Statistik-Software Stata verbessert zu haben. Ungefähr die Hälfte traut sich bereits nach dieser Einführung zu, die besprochenen Designs in einer eigenen Forschungs- oder Abschlussarbeit anzuwenden (1).

Besondere Leistung für die politikwissenschaftliche Hochschullehre

Kausale Inferenz hat sich zum elementaren Bestandteil der quantitativen Politikwissenschaft etabliert. Wir haben durch unseren Ansatz Studierenden sehr früh in ihrer wissenschaftlichen Karriere einen praxisorientierten und zugänglichen Einblick in zentrale Annahmen, Potenziale und Herausforderungen dieses methodologischen Bereichs vermittelt. Die selbst gewählten Forschungsfragen und eigenen Forschungsprojekte trugen dazu bei, Motivation für die Auseinandersetzung mit in der Grundausbildung sonst weniger beliebten Themen wie Statistik und quantitativer Forschung auszubauen.  Im weiteren Verlauf ihres Studiums werden die Studierenden wiederholt mit quantitativer Forschung in Kontakt kommen. Die Unterscheidung von korrelativen und kausalen Ergebnissen sowie Wissen über die Grenzen der jeweiligen Ansätze ist dabei eine entscheidende Fähigkeit.

Ablauf

Empirische Sozialforschung I

(Ferdinand Geißler und Maik Hamjediers, Soziologie, Lehrbereich für Empirische Sozialforschung)

  • Themenfindung: Wie wählt und formuliert man eine Forschungsfrage?
  • Wissenschaftliches Arbeiten: Der Prozess von Themenfindung bis Auswertung
  • Survey-Experimente: Grundannahmen und Design-Grundsätze
  • Treatment-Design: Wie entwickle ich präzise und trennscharfe Treatments in Surveys?
  • Konzeptspezifikation: Wie messen wir unsere theoretischen Konzepte in einem Fragebogen richtig?
  • Fragebogenkonstruktion: Grundsätze, Herausforderungen, Fehlerquellen
  • Forschungsethik: Herausforderungen ethischer Forschung und Best Practices

Empirische Sozialforschung II

(Frederik Thieme und Tim Wappenhans, Politikwissenschaft, Lehrbereich für Politisches Verhalten im Vergleich)

  • Potential Outcomes und kausale Inferenz: Wie ziehen wir kausale Schlüsse und welche Rolle spielt Randomisierung?
  • Experimente und Randomization Inference: Experimente als Idealfall, Treatment-Effekte für Experimente berechnen
  • Qualität und Reproduzierbarkeit: Grundsätze guter quantitativer Forschung
  • Kausale Inferenz mit Beobachtungsdaten: Was ist Grundidee des Designs und was sind seine Annahmen? Wie wird das Design in der Forschung angewandt?
    • Unexpected Event During Survey Designs
    • Instrumental Variable Designs
    • Difference-in-Differences Designs
    • Regression-Discontinuity Designs

 

 

Über die Autoren:

Maik Hamjediers ist Max Weber Fellow am European University Institute und forscht zu geschlechtsspezifischer Ungleichheit im Arbeitsmarkt und Haushalt mit einem Fokus auf die Methodologie empirischer Sozialforschung.

Ferdinand Geißler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und legt seine Arbeitsschwerpunkte auf Methoden der empirischen Sozialforschung, Bildungsforschung sowie intergenerationale Beziehungen.

Frederik Thieme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und Doktorand im Research Training Group DYNAMICS, wo er mit Methoden der kausalen Inferenz zu den Ursachen und Folgen wirtschaftlicher Ungleichheit sowie deren Verbindungen zur Klimapolitik und zu Umwelt-Einstellungen forscht.

Tim Wappenhans ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und Doktorand im Research Training Group DYNAMICS, wo er mit kausaler Inferenz die Auswirkungen rechtsradikaler Parteien sowie Strategien zur Stärkung demokratischer Resilienz erforscht.

 

 

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2024 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Sandra Destradi für ihr Lehrprojekt „How to Study the International Effects of Populism”, durchgeführt im Sommersemester 2023 an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg,  verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

 

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