Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Hochschule: Beispiel für ein interdisziplinäres Seminarformat

Autorinnen: Astrid Carrapatoso und Monika Löffler

Schwarz-Friesel & Benz (2015, 2004) weisen seit Jahren darauf hin, dass Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft tief verwurzelt ist, die Mitte-Studie (2023) belegt eine steigende Tendenz (Achour 2023). Für Entstehung und Fortbestehen von Antisemitismus ist weder die Präsenz noch das tatsächliche Verhalten von als jüdisch gelesenen Personen maßgebend. Vielmehr stellt Antisemitismus eine willkommene Projektionsfläche dar und steht in Zusammenhang mit dem Weltbild der Träger*innen (Wohl von Hasselberg 2020). Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist moralisch stark aufgeladen und durch (teils unbewusste) Ambivalenzen verzerrt, denn auch Lehrkräfte sind nicht frei von tradierten und antisemitischen Denkmustern. Viele scheuen sich, antisemitismuskritische Bildungsarbeit anzugehen, weil sie vermeintlich zu wenig wissen oder Angst vor Fehlern haben. Um diesem Spannungsfeld konstruktiv zu begegnen und angehende (Politik-) Lehrkräfte darin zu bestärken, sich an ihren späteren Wirkstätten aktiv auch im Sinne der Demokratiebildung gegen Antisemitismus und für Menschenrechte einzusetzen, verbinden wir handlungsorientierte medienpädagogische Projektarbeit mit einer Exkursion und individueller Lernreflexion.

Ziel des Seminars war es, Studierenden im Sinne einer Professionalisierung und Demokratiebildung zu ermöglichen, fachwissenschaftliches und fachdidaktisches Wissen zu erwerben. Insbesondere aber auch - in einem geschützten Rahmen - an ihrer eigenen Haltung und ihren Einstellungen anzusetzen, kritisch-reflexives Denken zu stärken, intrinsische Motivation (auch über das Seminar hinaus) für eine selbstgesteuerte Auseinandersetzung mit der Thematik zu entwickeln sowie Selbstwirksamkeit und kollektives Handeln durch kontinuierliche Interaktion und gemeinsame Projektarbeit zu erleben. Dies ermöglichten wir durch betreutes, aber weitestgehend selbstreguliertes und interessenbasiertes Lernen anhand der Bereitstellung von vielfältigen Selbstlernmaterialien (Fachliteratur, Unterrichtsmaterialien, Podcasts, Dokumentationen, etc.) sowie dem Medienprojekt in Form eines E-Books, in dem die Begegnung mit unterschiedlichen Akteur*innen und Interviews neben eigener Recherche im Mittelpunkt standen. Die Seminarkonzeption basiert auf Prinzipien handlungsorientierter Medienpädagogik (Schorb 2021) und der Projektmethode (Frey 2012, Gudjons 2014, Reinhardt 2022) und bietet somit die Möglichkeit, sich aktiv gestaltend einzubringen. Studierende haben kritisch-reflexiv eigene wie fremde Beiträge zu Antisemitismus analysiert und brachten sich selbstverantwortet auf Basis des Lernens durch Gestalten (Stahl 2009) in das gemeinsame E-Book ein. Zudem konnten die Studierenden dadurch ihre (eigene) Sprachlichkeit und die Wortwahl in anderen Medien reflektieren (u.a. anhand von Steinke 2022 und dem NdM-Glossar). Die Praxis antisemitismuskritischer Bildungsarbeit konnte bei den Interviews mit Expert*innen, in den besuchten Institutionen sowie durch bereitgestellte Materialien erfahren und diskutiert werden. Somit fanden die Studierenden exemplarisch Anknüpfungspunkte für ihre spätere Tätigkeit als Lehrkräfte.

Durch betreutes, aber überwiegend selbstgesteuertes Lernen sowie dem handlungsorientierten Zugang, konnten nachhaltige Lernprozesse befördert und durch die Gruppenarbeit sowie die Exkursion die Teamfähigkeit gestärkt werden. Durch die Bereitstellung und Sichtung unterschiedlicher Medien wurde die kritische Auseinandersetzung mit der medialen Aufbereitung des Themas sowie durch die Produktion des E-Books zudem die eigene Medienkompetenz (Hugger 2021) gefördert. In den Lernreflexionen (Bräuer 2016) sowie dem Feedback zum Seminar zeigte sich, wie intensiv sich die Studierenden mit verschiedensten Facetten von Antisemitismus auseinandergesetzt haben. Sie haben weit über den Seminarkontext hinaus ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit entwickelt, sowohl im Hinblick auf persönliche Haltungen und Handlungsbereitschaften, Antisemitismus als gesellschaftspolitisches Thema, aber auch in Bezug darauf, das Thema in Schule und Unterricht nicht mehr zu scheuen.

Wir haben uns bewusst dafür entschieden, dieses Seminar für alle Fachrichtungen zu öffnen – aus der Überzeugung und dem Bildungsauftrag heraus, dass Demokratiebildung und antisemitismuskritische Bildungsarbeit nicht allein Auftrag der Politiklehrkräfte sind, sondern ein gesamtschulisches und somit fächerübergreifendes Thema. Als Lehr-Tandem konnten wir unsere politikwissenschaftlichen bzw. -didaktischen und medienpädagogischen Expertisen zusammenbringen und ein Seminarkonzept entwickeln, welches nicht nur Wissen vermittelt, sondern eine kritisch-reflexive Haltung, demokratische Einstellungen, Mut zu kollektivem Handeln und Selbstwirksamkeit befördert. Aus vielen Bereichen wissen wir: Wissen führt nicht automatisch zum Handeln. Gerade für die politikwissenschaftliche Hochschullehre, und hier explizit für die Lehrkräfteausbildung, bietet unser Seminar ein Best-Practice-Beispiel, wie eine Brücke zwischen Wissen und Handeln über selbstgesteuertes Lernen, aktives Gestalten, kollektives Handeln, Reflexion und insbesondere Begegnung gebaut werden kann.

 

 

 

Über die Autorinnen:

Dr. Astrid Carrapatoso ist Professorin für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie ist dort auch Vize-Direktorin des Research Center for Climate Change Education and Education for Sustainable Development (ReCCE). In ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit setzt sie sich intensiv mit Demokratiebildung, politischer BNE und Klimabildung sowie Menschenrechte und internationale Politik auseinander.

Dipl.Päd. Monika Löffler ist Medienpädagogin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie ist Geschäftsführerin des Center for Interdisciplinary Research on Digital Education (CIRDE). Fast 20 Jahre hat sie das Lernradio der PH Freiburg PH 88,4 geleitet. In diesem Zusammenhang wurde sie mit dem Landeslehrpreis Baden-Württemberg und dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte liegen in der Medien- und Demokratiebildung.

 

 

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“

Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2024 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Prof. Dr. Sandra Destradi für ihr Lehrprojekt „How to Study the International Effects of Populism”, durchgeführt im Sommersemester 2023 an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg,  verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

 

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