Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Wahlkreisarbeit in Zeiten von Covid-19

Projektskizze Forschungsseminar:

Seminar: „Wahlkreisarbeit in Zeiten von Covid-19“, Sommersemester 2020
Teilnehmende am Seminar: 21 Studierende der Politikwissenschaft (MA / Lehramt)
Leitung des Seminars: PD Dr. Sven T. Siefken

Das Seminar „Wahlkreisarbeit von Abgeordneten“ ist ein Beispiel für positive Disruptiondurch die Covid-19-Pandemie: Gegenstand, Inhalte und Vorgehen wurden in einer Art angepasst, die zuvor nicht denkbar war. Die schnelle Reaktion, das Engagement aller Beteiligten und die besonderen Herausforderungen der Corona-Krise in Verbindung mit neuen technischen Verfahren ermöglichten es, ein innovatives Seminar in Einheit von Forschung und Lehre zu realisieren: 33 Mitglieder des Bundestages wurden per Videokonferenz durch Studierende zu ihrer Wahlkreisarbeit interviewt und eigenständig analysiert. Ausgewählte Beiträge wurden auf Konferenz vorgestellt und in einem Sammelband veröffentlicht. Auf diesem Wege wurde mit den Studierenden der gesamte empirische Forschungsprozess erlebt und gestaltet.

1 Ausgangssituation: Forschungsseminar zur Wahlkreisarbeit in Normalzustand

Die Lehrveranstaltung war als politikwissenschaftliches Master-Modul „Repräsentanten und Repräsentierte“ im Masterstudiengang „Parlamentsfragen und Zivilgesellschaft“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angeboten und hatte insgesamt 21 Teilnehmende. Geplant war, die Wahlkreisarbeit von Abgeordneten des Bundestages zu untersuchen, indem nach Aufnahme der Grundlagen parlamentarischer Repräsentation eigenständige (Re-)Kodierungen und Analysen bereits vorhandener Interviewdaten aus dem Forschungsprojekt CITREP („Citizens and Representatives in France and Germany“) erfolgen sollten. Die Leitfragen richteten sich darauf, was Wahlkreisarbeit ausmacht und wie sie mit der Parlamentstätigkeit verknüpft ist. So war die Lehrveranstaltung als Forschungsseminar geplant, und daher war im Herbst 2019 eine Lehrlizenz der Software MaxQDA beantragt worden, die in Kursstärke zur Verfügung stand.

2 Die Disruption durch Covid-19: Technische Umstellung und neue Möglichkeiten

Aufgrund des Infektionsgeschehens wurde das Seminar auf den Online-Betrieb umgestellt: Referate hielten die Teilnehmenden asynchron per WebCast, und es fanden synchrone Videokonferenzen zur Diskussion statt. Inhaltlich begann das Seminar damit, die Grundlagen der Repräsentationstheorie und aktuelle Forschung zum Thema aufzunehmen. Viele der Teilnehmenden konnten aus Jobs, Praktika und eigenem politischen Engagement anekdotische Evidenzen zur aktuellen Situation der Wahlkreisarbeit einbringen. Schnell wurde dabei deutlich, dass das Repräsentationsverhalten in der Krise teils anders aussieht als im Normalzustand. So entwickelte sich die Idee, das Forschungsseminar umzustellen: Statt der Analyse vorhandener Interviews sollte eine eigene Studie komplett entwickelt und umgesetzt werden.

Die Gesprächsführung erfolgte mittels Videokonferenz, was es überhaupt ermöglichte, bei den noch andauernden Kontaktbeschränkungen, Interviews zu führen. So fielen auch keine Reisekosten an, die Aufzeichnung von Bild und Ton konnte direkt erfolgen, und mehrere Interviewende konnten jeweils eingesetzt werden. Interviews mittels Videokonferenz waren zuvor kein übliches Instrument der sozialwissenschaftlichen Forschung und nur vereinzelt genutzt worden. Auf Akzeptanz der Abgeordneten dürfte es in der frühen Phase der Covid-19-Pandemie gestoßen sein, in der dieses Format für viele neu und die „Bildschirmmüdigkeit“ noch nicht sehr ausgeprägt war.

Im Seminar wurde gemeinsam der Interview-Leitfaden erstellt, der auf den vorherigen Befragungen zur Wahlkreisarbeit im Normalzustand aufsetzte. Dessen ersten Entwurf entwickelten zwei Teilnehmerinnen als Studienleistung. Ebenso wurde mit weiteren notwendigen Bestandteilen des Forschungsprozesses umgegangen, etwa der Konstruktion und Überwachung der Stichprobe, der Transkriptionstechnik und der methodischen Einführung in MaxQDA, sowie der Entwicklung und Bereitstellung des Kodierschemas. Entwürfe wurden als Studienleistung erstellt, die abschließende Version wurde nach deren Diskussion vom gesamten Seminar beschlossen.

Zeitgleich erfolgte ab Anfang Mai 2020 die gezielte Akquise von Abgeordneten. Als Auswahlverfahren kam ein systematisches Sampling zum Einsatz, in dem vorhandene Kontakte zu Mitgliedern des Bundestages genutzt wurden, wobei auf die Erfüllung zentraler Kriterien geachtet wurde: Parteien, Geschlecht, Mandatstyp, Region. Ziel war es, fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages zu befragen, mit 33 MdB, die schließlich interviewt wurden, ist es fast erreicht.

Gespräche mit externen Gästen zur Stichprobenziehung und die Interviewschulung erfolgten ebenfalls per Videokonferenz. Zwei Mitglieder des Bundestages aus Halle erklärten sich frühzeitig zur Beteiligung bereit: Karamba Diaby (SPD) und Christoph Bernstiel (CDU). Das Gespräch mit Karamba Diaby wurde als Pretest angelegt, an dem alle Mitglieder des Seminars als Publikum teilnahmen, das Interview selbst wurde durch eine Person geführt. In Präsenz wäre dieses Vorgehen nicht möglich gewesen. Studienleistung für die Teilnehmenden war es, an zwei Interviews mitzuwirken und deren Transkription vorzunehmen. Ebenfalls waren die Interviews in MaxQDA nach dem einheitlichen Schema zu kodieren. Anschließend wurden Anfang Oktober 2020 die entsprechenden Interviews zusammengeführt und plausibilisiert, und die gesamte Datenbank wurde allen Teilnehmenden bereitgestellt. Damit konnte als Modulleistung die eigene Analyse vorgenommen werden. Aufbauend darauf werden gegenwärtig eine Buchpublikation und Konferenzbeiträge vorbereitet.

Die besondere Situation hat auch zu einem veränderten Technikeinsatz geführt. So wurden als zentrale Austauschplattform für das Projekt die etablierten Strukturen von Stud.IP genutzt, aber viele Funktionalitäten viel intensiver eingesetzt. Zusagenliste und Projektmanagement wurden im Wiki von allen gemeinsam geführt (163 Änderungen), vertiefende Diskussion im Forum geführt (136 Beiträge), die Terminvergabe über Ankündigungen organisiert (91).

3 Erfolge des Projektes und Lehren für den Normalzustand

Das Seminar ließ die Teilnehmenden den gesamten Forschungsprozess selbst gestalten und erleben, wobei eine enge Anleitung erfolgte. Die besondere Situation eröffnete neue inhaltliche Fragestellungen sowie technische und organisatorische Gelegenheiten, die zuvor nicht genutzt wurden. Dabei entstand eine ausgesprochen positive Gruppendynamik, was sich in der großen Beteiligung auch an freiwilligen Sondersitzungen in den Abendstunden, am Wochenende und in der vorlesungsfreien Zeit zeigte. Überdies liefert die Untersuchung einen wichtigen inhaltlichen Beitrag zum politikwissenschaftlichen Verständnis der Covid-19-Krise und der Rolle der Parlamente und Abgeordneten dabei – zumindest in Bezug auf die erste „Welle“. Das Forschungsseminar hat gezeigt, dass und wie die Videokonferenzen auch für die Durchführung von Interviews und ihren Einsatz in der universitären Lehre geeignet sind. Den Studierenden war es möglich, den gesamten Forschungsprozess selbst zu erleben, zu gestalten und zu reflektieren. Dies hat zu besonderen Lerneffekten und einem vertieften Verständnis sozialwissenschaftlichen Forschung aber auch der Repräsentationsprozesse geführt. Insofern war das Seminar in dreierlei Hinsicht erfolgreich: Es war methodisch innovativ, es hat Studierenden die wissenschaftliche Forschung durch „Learning by Doing“ ermöglicht – und neue Erkenntnisse zu einem aktuellen Thema und grundsätzlichen Fragen geschaffen.

Ausgewählte Ergebnisse der Untersuchung erscheinen 2021 bei Springer VS:

Sven T. Siefken (Hg.) (2021): Wahlkreisarbeit von Bundestagsabgeordneten. Parlamentarische Repräsentation in der Corona-Krise. Wiesbaden: Springer VS.

 

Über den Autor

Sven T. Siefken ist Politikwissenschaftler und Privatdozent an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“

Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2021 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der erste Lehrpreis Politikwissenschaft wurde an Sebastian Möller für sein Forschungsseminar „Schlüssel zur Welt: Die Bremischen Häfen in der Globalen Politischen Ökonomie“ im Sommersemester 2020 an der Universität Bremen verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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