Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Global denken, lokal studieren: Mit dem Hafenblog auf Spurensuche vor der eigenen Haustür

Gute politikwissenschaftliche Lehre inspiriert, ermutigt und befähigt Studierende zur eigenständigen Formulierung und Beforschung relevanter Fragen, zur Darstellung eigener Befunde und begründeter Meinungen über den Hochschulkontext hinaus und zur aktiven Mitgestaltung des Seminargeschehens. Diese drei herausfordernden und zugleich sinnstiftenden Ziele können besonders gut erreicht werden, wenn der eigene Studienort ins Studium einbezogen wird, um so an konkrete Alltagserfahrungen der Studierenden anzuknüpfen, ihre empirische Neugierde zu wecken bzw. zu nutzen und bei ihnen eine forschende Haltung zu fördern. Die breite Palette des politikwissenschaftlichen Curriculums bietet dafür viele Anknüpfungspunkte.

Häfen als spannende außeruniversitäre Lernorte

Im Forschungsseminar „Schlüssel zur Welt – Die Bremischen Häfen in der Globalen Politischen Ökonomie“ haben wir uns im Sommersemester 2020 (und damit mitten im 1. Corona-Lockdown) an der Universität Bremen gemeinsam auf die Suche nach lokalen Spuren von Globalisierungsprozessen am Beispiel der Häfen gemacht. Ein Hafen ist dabei nicht nur eine zentrale technische Infrastruktur des Welthandels, sondern zugleich ein eigener soziökonomischer Mikrokosmos mit einer Vielzahl unterschiedlichen Akteuren und hohem Koordinationsaufwand, ein mehr oder weniger umkämpfter Gegenstand von Politik und selbst eine Arena, in der verschiedene Interessen aufeinandertreffen. Zudem manifestieren sich in Häfen und ihren Institutionen eine Vielzahl von historischen und gegenwärtigen Machtverhältnissen (Kolonialismus, Migration, Terms of Trade etc.), deren Verständnis im Wortsinn ein Schlüssel zur Welt sein kann. All das macht Häfen zu geeigneten und inspirierenden außeruniversitären Lernorten.

Lernziele des Hafenseminars: Dreifache Kompetenzentwicklung

Zu den Zielen dieser Lernveranstaltung gehörten die Entwicklung von Fachkompetenzen (Kennen und Verstehen zentraler hafenpolitischer Akteur*innen, Strukturen, Kontroversen und Entwicklungsdynamiken sowie disziplinärer und theoretischer Perspektiven auf Häfen), Methodenkompetenzen (Datenrecherche, -erhebung und -auswertung) sowie Sozialkompetenzen (Kommunikation von eigenen Ergebnissen für eine breitere Öffentlichkeit, Verantwortungsübernahme für den Seminarerfolg, kooperatives Arbeiten, sinnstiftenden Austausch mit Praxispartner*innen gestalten). Es war mir dabei ein besonderes Anliegen, die Sicht der Studierenden auf Phänomene und Strukturen an ihrem Studienort durch einen analytischen Blick zu erweitern und ihre Aufmerksamkeit für spannende Alltagsdynamiken zu schulen. Zugleich sollten unsere Lern- und Forschungsergebnisse nicht in irgendeiner Schublade verschwinden, sondern öffentlichkeitswirksam publiziert werden. Dieses Ziel konnten wir mit dem Hafenblog, einer gemeinsamen Seminarpublikation und einzelnen online-Artikeln zu Hafenthemen erreichen.

Forschendes Lernen in der Pandemie

Das erste Coronasemester war in dieser Hinsicht eine enorme Herausforderung, die aber zugleich in unserem Seminar eine kreative und solidarische Lernkultur befördert hat. Die Umstellung auf digitale Lehre hat das schon länger geplante Hafenseminar besonders hart getroffen, basierte das ursprüngliche Konzept dieses Forschungsseminars doch gerade auf dem Ansatz lokale Spuren der Globalisierung im Feld (also im Hafen) sichtbar zu machen. Bis auf eine abschließende Hafenradtour konnten die geplanten Exkursionen und Außentermine leider nicht stattfinden. Gerettet werden konnte aber die Einbindung zahlreicher externer Praxispartner*innen aus Hafenpolitik und -wirtschaft, die v.a. durch aufgezeichnete Interviews oder Gastbeiträge auf dem Hafenblog am digitalen Hafenseminar beteiligt werden konnten.

Bei der plötzlichen Umstellung auf digitale Lehre standen für mich als Lehrender zwei Aspekte im Vordergrund. Einerseits wollte ich so viel wie möglich vom forschenden und interaktiven Charakter des Seminars erhalten und den Studierenden auch unter erschwerten Bedingungen interessante und inspirierende Lernchancen bieten. Andererseits wollte ich aber auch den besonderen Umständen und Lernbedingungen in der Pandemie möglichst gut gerecht werden und Studierende nicht überfordern. Für mich war schon sehr früh in der Vorbereitung klar, dass Studieren im Digitalsemester deutlich schwieriger ist und es daher einer empathischen Grundhaltung gegenüber den Studierenden und ein großes Entgegenkommen beim Lektüreumfang, in der Flexibilität der Prüfungsformen und bei der Häufigkeit synchroner Seminarsitzungen bedarf. Die ursprünglich geplanten Seminarsitzungen wurden in weitgehend asynchrone Lerneinheiten umgewandelt, um den ungleichen Lern- und Arbeitsbedingungen besser gerecht zu werden und ein interessensgeleitetes Studium zu fördern.

Der Hafenblog als digitaler Seminarraum

Die zentrale digitale Plattform und ein wichtiger Erfolgsfaktor unsers Seminars war der Hafenblog – ein Instrument, das wir ohne Digitallehre vermutlich gar nicht eingesetzt hätten. Auf diesem Seminarblog wurde zu jeder Lerneinheit ein einführender Beitrag gepostet, in dem die Pflichtlektüre besprochen und zentrale Fragen aufgeworfen wurden. Dieser Post wurde i.d.R. durch ein selbstproduziertes Lernvideo ergänzt. Studierende konnten sich dann für eigene Beiträge zu einer Lerneinheit anmelden, die innerhalb einiger Wochen auf dem Hafenblog gepostet werden sollten. Diese Beiträge konnten auch in Form von Podcasts erstellt werden. Andere Studierende und ich haben die Beiträge dann mit der Kommentarfunktion diskutiert. Insgesamt sind so 142 Beiträge und 378 Kommentare zusammengekommen. Durch Verlinkungen ist schrittweise eine regelrechte Lernlandkarte auf dem Blog entstanden (als gute Einstiege dienen die Überblicksposts zu den Einheiten unter Themen). Zudem stellt der Hafenblog auch eine Liste mit Forschungsdaten zur Verfügung, die wir im Laufe des Semesters kontinuierlich erweitert haben. Mit dem Fotorätsel und den Hafennews haben wir weitere interaktive Elemente eingebaut, die ein Engagement über die Pflichtbeiträge hinaus ermöglichen und Neugier wecken sollten.

Zentraler Vorteil des Blogs gegenüber herkömmlichen Formen der Leistungserbringung ist aus meiner Sicht die Aufwertung der studentischen Beiträge als echte Lernbeiträge für die Lerngruppe und die Öffentlichkeit, da der Blog nach einer internen Umfrage auch öffentlich zugänglich ist (ohne dass Studierende dadurch gezwungen wären öffentlich zu schreiben). Auf dem Hafenblog werden Studierende so zu Autoren und Wissensproduzenten.

Der Erfolg des Hafenseminars spiegelt sich nicht nur in der z.T. außerordentlich hohen Qualität der studentischen Beiträge und Hausarbeiten, sondern auch im sehr hohen Engagement und der sichtbaren Freunde vieler Seminarteilnehmer*innen wider. Für mich ganz persönlich war es zudem ein enorm erfolgreiches Seminar, weil ich selbst unglaublich viel gelernt habe und dabei trotz der schwierigen Bedingungen viel Spaß hatte. Es hat auch Studierende anderer Fachrichtungen und Qualifikationsstufen begeistert, die ein besonderes Interesse an den Häfen bzw. einer der bearbeiteten Themenfeldern und/oder schon eigene Zugänge zum Feld mitbrachten. Trotz seiner inter- und transdisziplinären Orientierung hat das Seminar dabei seinen politikwissenschaftlichen Fokus nicht aus dem Auge verloren und sogar Forschungslücken in der Politikfeldanalyse identifiziert, die hoffentlich bald in Abschlussarbeiten bearbeitet werden.

Take away: Bloggen, begeistern & kollegial beraten!

Das Konzept, den Studienort eng in das politikwissenschaftliche Studium einzubeziehen ist didaktisch sehr gut aufgegangen und kann insb. in der Internationalen Politischen Ökonomie, der Politikfeldanalyse und der Regierungslehre breitere Anwendung finden. Für andere digitale oder hybride Lernveranstaltungen kann ich zudem den Einsatz von Seminarblogs in Kombination mit Praxisdialogen und durchdachten asynchronen Lernszenarien sehr empfehlen. Viel wichtiger als die technische Lernumgebung sind aber für mich die Einstellung gegenüber den Studierenden, die Wertschätzung für den gemeinsamen Lernprozess und v.a. eine ansteckende Begeisterung für das Seminarthema. Die demokratische, empathische und aktivierende Lernkultur im Hafenseminar hat einen wichtigen Beitrag zu seinem Erfolg geleistet.

Gemeinsam mit Elizaveta Gaufman habe ich kürzlich in einen Beitrag für den Palgrave Sammelband „Pandemic Pedagogy - Teaching International Relations Amid COVID-19“ unsere Seminarerfahrungen für andere Kolleg*innen aufbereiten. Insgesamt scheint mir der dringend notwendige kollegiale Austausch über gute Lehre in der Pandemie endlich an Fahrt aufgenommen zu haben. Diese gemeinsame Reflexionsarbeit muss unbedingt fortgesetzt und weiter ausgebaut werden.

 

Über den Autor

Sebastian Möller ist Studiengangskoordinator, Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ökonomie der der Cusanus Hochschule für Gesellschaftgestaltung sowie assoziiertes Mitglied des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) an der Universität Bremen, wo er auch promoviert. Er ist Träger des Berninghausenpreis für hervorragende Lehre und des Lehrpreis Politikwissenschaft.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“

Der erste Lehrpreis Politikwissenschaft wurde an Sebastian Möller für sein Forschungsseminar „Schlüssel zur Welt: Die Bremischen Häfen in der Globalen Politischen Ökonomie“ im Sommersemester 2020 an der Universität Bremen verliehen. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

Weitere Beiträge in der Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“