Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Kooperationsseminar: Ausnahmezustand und Demokratie

Digitales Kooperationsseminar an den Universitäten Bonn, Hamburg, Hannover und Siegen im Wintersemester 2020/21

Dilemmata der Krisenbekämpfung: Ausnahmezustand und Demokratie

Die Corona-Pandemie hat für massive Einschnitte im gesellschaftlichen Leben gesorgt: Kontakt- und Ausgangssperren, geschlossene Geschäfte und auf Notbetrieb heruntergefahrene öffentliche Institutionen sind allerdings keine natürlichen Effekte des Virus, sondern staatlich vermittelte und angeordnete Maßnahmen der Krisenbekämpfung, die schon bald auf Skepsis und Warnungen vor riskanten Grundrechtseinschränkungen und Machtverschiebungen stießen. Denn neben den individuellen Herausforderungen, die mit all diesen Einschnitten einhergehen, sind sie auch mit grundlegenden politischen und demokratietheoretischen Fragen verbunden: Wann etwa werden staatliche Einschränkungen von Grund- und Bürgerrechten zu einer Gefahr für die Demokratie? Lassen sich diese Risiken verfassungsrechtlich einhegen? Welche Machtverhältnisse werden in derartigen Situationen deutlich? In der Politischen Theorie werden solche Fragen traditionell unter dem Begriff des „Ausnahmezustands“ verhandelt. Ihn und seine Theoretiker*innen haben wir in unserem Seminar „Ausnahmezustand und Demokratie“ zur Debatte gestellt.

Ausgehend von begrifflichen Typologien des Ausnahmezustands bzw. der „emergency powers“ haben wir anhand von Autor*innen wie z.B. Carl Schmitt, Giorgio Agamben, aber auch Bonnie Honig und Kim Lane Scheppele in unserem Kooperationsseminar die Themenkomplexe Ausnahmezustand und Recht, Ausnahmezustand und Souveränität bzw. Staat sowie Ausnahmezustand und demokratische Praxis erarbeitet. Neben der begrifflichen und theoretischen Diskussion standen im Verlauf des Seminars zugleich ganz unterschiedliche – historische wie aktuelle – Fallbeispiele zur Diskussion: vom Ursprung des Ausnahmezustandsdenkens in der Römischen Republik über Kolonialismus, den „Deutschen Herbst“ und den heutigen Terrorismus bis zur gegenwärtigen pandemischen Krisensituation. Unser Anliegen war es damit, sehr unterschiedliche Theoriestränge, Fallkontexte und ein diverses Ensemble von Autor*innen zu debattieren. So lernten die Studierenden die unterschiedlichen Bedeutungsebenen, die der Begriff des Ausnahmezustands in sich birgt, begrifflich zu unterscheiden, theoretisch einzuordnen und in diskursiven Bezug zu anderen Grundbegriffen des Politischen zu reflektieren, sowie im Kontext ganz unterschiedlicher ‚Ausnahmezustände‘ kritisch zu diskutieren.

Ein Ausnahmeseminar

Während politologische Forschung ohnehin kooperativ und universitätsübergreifend ist, wird die politikwissenschaftliche Lehre meist individuell geplant und durchgeführt. Zwar gibt es zunehmend Austausch über die Lehre (z.B. DVPW-Arbeitskreis Hochschullehre). Aber in der Lehrpraxis gibt es kaum kooperative Formate. Inspiriert von einer Initiative von Germanist*innen, dem Lehrexperiment „#relevanteliteraturwissenschaft“ aus dem Sommersemester 2019, haben wir ein standortübergreifendes Kooperativseminar geplant.

Das Seminar stand zugleich auch ganz praktisch in einem Ausnahmekontext: Unter Pandemiebedingungen wurde im Frühjahr 2020 nicht nur die Thematik krisenbedingter Ausnahmepolitik akut, sondern auch die universitäre Lehre findet seither unter Ausnahmebedingungen statt. Von Anfang an wurde das „Experiment digitale Lehre“ (Beitrag auf theorieblog.de z.B. hier und hier) zurecht kontrovers diskutiert. Im Rahmen des Kooperationsseminars haben wir diese Herausforderung produktiv gewendet. Wir haben Nachteile räumlicher Distanz kompensiert, indem wir für die Diskussionen zu „Ausnahmezustand und Demokratie“ eine politiktheoretische Community über fünf Universitäten hinweg mobilisierten.

Dabei erfolgten Vernetzung und Austausch zwischen den Seminaren auf unterschiedlichen Ebenen. Ein gemeinsamer Seminarplan, der zugleich unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven der Lehrenden integrierte, diente als Grundlage für die Diskussion in allen fünf Seminaren. „Kooperativ“ waren sämtliche Studienleistungen, nämlich Inputs und Outputs. In jeder Woche lieferten jeweils Arbeitsgruppen aus zwei Kursen kurze, diskussionsorientierte Video-Inputs. Die Diskussionsgrundlage aller Kurse bestand somit, neben der gemeinsamen Lektüre, in jeweils neuen Impulsen aus verschiedenen Universitäten, Lernkontexten und Studiengängen. Parallel dazu erfolgte eine Ergebnissicherung mittels Outputs, die jede Woche für jeden Kurs erstellt wurden. Geteilt über den Dokumentenserver sciebo.de konnten die Studierenden so Einblicke in die Diskussionen und in die, teilweise kontroversen, Ergebnisse der unterschiedlichen Kurse gewinnen.

Highlights des Kooperationsseminars waren die Synchronsitzungen aller Kurse, die an zwei gemeinsamen Terminen im Semester über „Zoom“ stattfanden. In einer ersten Sitzung stellte Dr. Matthias Lemke als Gastreferent seine Thesen zur ideengeschichtlichen und aktuellen Notstandsdiskussion in der BRD zur Debatte, gefolgt von einer engagierten Diskussion in Breakout-Sessions wie auch im Plenum. In einer zweiten Synchronsitzung standen die Corona-Pandemie sowie studentische Perspektiven auf ihren theoretischen Gehalt im Fokus: Drei Essayist*innen unterschiedlicher Universitäten stellten auf Grundlage ausgewählter theoretischer Perspektiven, die sie im Seminarkontext kennengelernt hatten, ihre Thesen zur Corona-Pandemie zur Diskussion. Drei Kommentator*innen eröffneten in der Synchronsitzung pointiert die Diskussion über die Essays ihrer Kommiliton*innen. Hier sowie im Rahmen nun entstehender Hausarbeiten konnten wir die Lehre auch mit der Förderung studentischer Forschungsanliegen verbinden.

Miteinander verbunden waren wir folglich durch gemeinsame, synchrone Veranstaltungen sowie quer durch die Seminare zirkulierende studentische Inputs und Outputs. Darüber hinaus entstanden Verbindungen mittels Social Media und eines kooperativen „Slack“-Debatten-Kanals. Diese technischen Möglichkeiten haben wir somit einerseits zur inhaltlichen Pluralisierung in der Seminardebatte, andererseits aber auch zur Kompensation sozialer und kommunikativer Lücken während der Pandemie genutzt.

Seminarmodell mit Zukunft

Damit waren zahlreiche Herausforderungen verbunden. Vor allem die gemeinsame Feinabstimmung der Seminarplanung, die mit unterschiedlichen Studiengängen und Prüfungsordnungen kompatibel sein musste, erforderte viel Vorbereitungszeit. Aber auch die technische Vernetzung von vier Universitäten in drei Bundesländern verlangte einiges Abwägen zwischen Machbarem und Sinnvollem. Einige Vernetzungsangebote wurden von den Studierenden wenig verwendet (z.B. „Twitter“ und „Slack“) und müssten möglicherweise mit konkreten Aufgabestellungen verbunden werden, um sie in zukünftigen Seminaren noch besser einzubinden.

Dennoch ist es unsere – vom Studierendenfeedback gestützte – Überzeugung, dass das Kooperationsseminar ein Erfolg war. Inhaltlich haben wir von den unterschiedlichen Schwerpunkten und Sichtweisen der Studierenden wie der Lehrenden profitiert; organisatorisch war das Seminar ein gelungenes Experiment, das kreativen Einsatz gefordert hat. Durch die Verbindung von gemeinsamen und getrennten Sitzungen bot sich für alle ein fester Seminarkontext mit vertrauter Diskussionsatmosphäre, aber auch zahlreiche Möglichkeiten zum Austausch mit anderen Standorten.

Aus dem Diskussionszusammenhang unseres Kooperationsseminars haben sich unterschiedliche Anschlussprojekte ergeben. Auf dem DVPW-Kongress 2021 organisieren die Lehrenden gemeinsam einen digitalen Roundtable zum Thema „Reframing ‚Crises‘ as ‚Emergencies‘: Executive Authoritarianism or Democratic Emergency Politics from below?“ mit Expert*innen zu Klima, Terrorismus und Migration als Krise bzw. Ausnahmezustand. Zudem sind für den „Theorieblog“ Veröffentlichungen in Planung: Zum einen werden die Lehrenden im Kontext der Debatte „Experiment Digitale Lehre“ ihre Seminaridee reflektieren und zur Diskussion stellen. Zum anderen sind zwei unserer Studierenden dabei, ihre Essays zur Veröffentlichung auf theorieblog.de zu überarbeiten.

Insgesamt ist das digitale Kooperationsseminar zur Problematik des Ausnahmezustands unserer Einschätzung nach ein auch für post-pandemische Zustände adaptierbares Modell, das herkömmliche politikwissenschaftliche Lehr- und Lernformen produktiv aufbricht.

Anhang: Seminarplan

 

Über die Autor*innen

Dr. Svenja Ahlhaus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Politische Theorie an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.

Dr. Andreas Busen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich „Geschichte und Theorie politischen Denkens“ an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg

PD Dr. Eva Marlene Hausteiner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn. Derzeit ist sie Vertretungsprofessorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald.

Dr. Sebastian Huhnholz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Leibniz-Universität Hannover und kommissarischer Leiter des dortigen Arbeitsbereichs Politische Theorie und Ideengeschichte.

Dr. Anna Meine ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Sozialwissenschaften an der Professur für Internationalen Vergleich und Politische Theorie der Universität Siegen.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“

Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2021 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der erste Lehrpreis Politikwissenschaft wurde an Sebastian Möller für sein Forschungsseminar „Schlüssel zur Welt: Die Bremischen Häfen in der Globalen Politischen Ökonomie“ im Sommersemester 2020 an der Universität Bremen verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

Weitere Beiträge in der Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“