Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Virtuelle Proseminare zur politischen Theorie

Im Sommer- und Wintersemester 2020 führte Dr. Martin Baesler am Seminar für Wissenschaftliche Politik und am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg das Projekt „Virtuelles Proseminar zur politischen Theorie“ durch. Das Projekt verfolgte das Ziel, ein aufmerksamkeitssteigerndes und lernförderndes didaktisches Format für die Umsetzung der virtuellen Seminare zu „Freiheit im digitalen Panoptikum“ (Sommersemester 2020) und „Politische Philosophie der Aufklärung“ (Wintersemester 2020/21) zu entwickeln und anzuwenden. Die Seminare wurden in Form von Blockseminaren umgesetzt. Im Zentrum stand die Entwicklung einer Lehrmethode zur Förderung des virtuellen Studierens als diskurszentrierte Aktivität.

In Vorbereitung auf das Projekt entwickelte der Dozent eine Methodik zu anregenden digitalen Formaten für Jugend- und Erwachsenenbildung, die er gemeinsam mit einem Kollegen am 30. Mai 2020 auf der GEWolution-2020 vorgestellte. Es wurde thematisiert, auf welche Weise Freiräume geschaffen werden können für eigenes und gemeinsames Lernen und Reflektieren und für die Anwendung des Gelernten im digitalen Kursraum (simultane Prozesse des Aneignens, Hinführens und Herausarbeitens der Kernpunkte).

1. Leitfragen

Folgende Leitfragen ergaben sich für das Projekt:

  1. Welche politikwissenschaftliche Lehrmethode ist für digitale Proseminare geeignet, die die Potentiale der zweidimensional angelegten, virtuellen Lernsituation nutzt, Methoden nicht einfach aus der analogen Seminarstruktur übernimmt und einen diskurszentrierten Lern- und Denkraum schafft?
  2. Welchen Methoden folgt die inhaltliche Bearbeitung der Themen?
  3. Wie lässt sich der diskursorientierte Lern- und Denkraum im virtuellen Setting umsetzen? Welche Vorteile ergeben sich für die Schaffung des Diskursraumes aus der Virtualität? Welche konkrete Umsetzung wird gewählt?
  4. Wie lässt sich genügend Raum für Feedback integrieren?

2. Politikwissenschaftliche Lehrmethode zur Schaffung eines diskurszentrierten gemeinsamen Lern- und Denkraums

„Eine diskursbasierte Seminardidaktik setzt auf echte Kommunikation im Sinne der gemeinsamen Wissensentwicklung und Argumentation.“ (Anja Centeno Garcia 2019, 47) Diese wird ermöglicht durch klare Zielsetzungen für das Lernen, den Erwerb von akademischen Kompetenzen und die Teilhabeformen im Seminardiskurs. Die Studierenden werden angeleitet, einen eigenen Denkraum zu schaffen „aus der Haltung einer realen Fachgemeinschaft im Als-ob-Status“ (ebd. 53), wobei in den mündlichen wie schriftlichen Formen der Beteiligung wissenschaftliches Forschen und Denken geschult werden. Die Kompetenzentwicklung zielt auf eigenständige Entfaltung des Themas, Freilegung und kritische Überprüfung zugrundeliegender Geltungsansprüche und argumentative Auseinandersetzung. Zentral ist die Formung einer Denkkultur des Hinterfragens eigener und fremder Gedanken, beginnend mit der Interpretation, Kommentierung und Kritik der zugrundeliegenden Lektüretexte.

Wie gelingt die Diskurszentrierung und die Konstruktion eines gemeinsamen virtuellen Denkraums? Virtualität kennzeichnet sich durch technisch vermittelte Anwesenheit und Partizipation. Sie ermöglicht die ad hoc Konstruktion von räumlicher Verbindung mit Distanzierungs- und Annäherungsmöglichkeiten für jede*n Studierende*n. Die selbstgewählte Partizipation wird gestärkt. Gleichzeitig nehmen sie sich gegenseitig als Konstrukteur*innen des gemeinsamen virtuellen Seminarraums wahr. Dieser selbstreflexive Prozess wird verstärkt durch den notwendigen Prozess der Organisation der Redebeiträge. Politikwissenschaftliche Seminare im Bereich der politischen Theorie schaffen den didaktischen Rahmen für eine gelingende Verflechtung der Problematisierung normativer Grundbedingungen, strukturell-gesellschaftlicher Begebenheiten und empirischer Analyse.

Die Zentralität der Textarbeit bleibt auch im virtuellen Raum bestehen. Ebenso die für die Vorbereitung eines Blockseminars zugrunde gelegte Textmenge. Das virtuelle Format des Seminars bietet die Möglichkeiten, leichter auf digitalisierte Veröffentlichungen, Kurstexte und Lernplattformen zuzugreifen, interaktive Partizipationsformen und kooperative Lernformen zu integrieren, selbständige Lernformen zu stärken sowie technisch unterstützte Feedbackformen zu nutzen. Die Nachteile des virtuellen Seminarformats liegen klar in den stark eingeschränkten Kommunikations- und verminderten sozialen Interaktionsmöglichkeiten. Diese Nachteile können durch verstärkten Einsatz kooperativer und selbständiger digitaler Lernformen aufgefangen werden.

3. Inhaltliche Methoden

Für das Seminar zur "Politischen Philosophie der Aufklärung" war die Methode der systematischen Begriffsanalyse und der historischen Kontextualisierung gemäß der Cambridge School rahmengebend. Entlang der von J. Israel und J. Dunn vorgeschlagenen Unterscheidungen zwischen moderaten und radikalen Aufklärungspositionen wurden mit Hilfe begriffskritischer und kontextualisierender Methoden Deutungsräume und Entwicklungslinien erschlossen. Für das Seminar zur "Freiheit im digitalen Panoptikum" war die politisch hermeneutische Methode wegweisend, mit deren Hilfe Verstehensprozesse in Gang gebracht und im Sinne John Deweys und Hannah Arendts „ein unmittelbar politisch-praktischer Modus der intellektuellen Welterschließung" (Hans-Jörg Sigwart 2020, 63) ermöglicht werden sollten. Hierbei sollten die Brüche der tradierten politischen Freiheits- und Kontrollbegriffe (vor allem von I. Berlin, P. Pettit und M. Foucault) in den Phänomenen der digitalen Technologisierung und den damit einhergehenden Grenzverschiebungen bzw. Umdeutungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ins Zentrum gerückt werden.

4. Konkrete Umsetzung des diskurszentrierten Lern- und Denkraums im virtuellen Format der zwei Seminare

Mit Hilfe einer Aufteilung in vier Phasen des Seminarablaufs werden der Diskurs und die verschiedenen Ebenen des Lernens gefördert:

  1. Inputphase
  2. Erarbeitungsphase
  3. Auswertungsphase
  4. Feedbackphase.

In einer einführenden Veranstaltung zu Beginn des Semesters legte der Dozent die Struktur des Seminarablaufs dar und formulierte die Anforderungen und Ziele. Im Projekt wurde eine Seminarzeit von 120 Minuten gewählt. Die Aufteilung der Phasen erfolgte folgendermaßen:

Inputphase

Das Seminar startete mit einer kurzen Einführung und Wiederholung. Danach wurde das Referat gehalten mittels PPT-Präsentation. Zur Vorbereitung der Referate gehört es, dass die Referent*innen aufgefordert waren, mit drei eigenständig aufgeworfenen, erkenntnisleitenden Fragen einzuleiten. Diese Fragen sollten den Zuhörenden zur genauen Fokussierung auf Problemstellungen während des Referats dienen. Gleichzeitig sollten sie die Grundlage für den gemeinsamen Diskurs bieten. Die Fragen sind bei Bedarf mit dem Dozenten im Vorfeld besprochen worden.

Erarbeitungsphase (30 Minuten)

Im Anschluss an das Referat erfolgte die asynchrone bzw. gruppensynchrone Bearbeitung der Fragen und Thesen. Die Studierenden befanden sich nicht mehr im gemeinsamen virtuellen Seminarraum, sondern entweder in Kleingruppen (den break-out-rooms) oder in individueller Bearbeitung der Fragen. Entscheidend war in dieser Phase, dass ihre Organisation von den Studierenden übernommen und der Dozent nur bei Bedarf hinzugezogen wurde.

Auswertungsphase (40 Minuten)

Im Anschluss an die asynchrone Phase folgte die synchrone Phase des Zusammentragens der Arbeitsergebnisse und der gemeinsamen Diskussion. Die drei Gruppen stellten ihre Fragen und Argumente vor und boten dadurch eine sehr gute Grundlage für die gemeinsame Diskussion, die durch die vorherige kooperative Bearbeitung in die Tiefe ging und interessante Fragestellungen mit tentativen Lösungen verband. Zum Abschluss dieser Runde wurde eine Zusammenfassung durch die Referent*innen vorgenommen.

Feedbackphase (10 Minuten)

Angeleitet durch den Dozenten fand daraufhin eine Feedbackrunde statt, in der die Referent*innen vorher gezielte Feedbackfragen äußerten, die anschließend durch die Seminarteilnehmenden beantwortet wurden. Die Feedbackrunden sollten die Studierenden darin üben, die wissenschaftlichen Leistungen einzuschätzen und anhand von konkreten Hinweisen weiterzuentwickeln.

Ausgehend von den Seminarevaluationen verliefen die beiden Seminare sehr erfolgreich und konnten für eine abwechslungsreiche und erkenntnisfördernde Lernatmosphäre sorgen.

 

Über den Autor

Dr. Martin Baesler ist Habilitand am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“

Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2021 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der erste Lehrpreis Politikwissenschaft wurde an Sebastian Möller für sein Forschungsseminar „Schlüssel zur Welt: Die Bremischen Häfen in der Globalen Politischen Ökonomie“ im Sommersemester 2020 an der Universität Bremen verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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