Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Steuerpolitik: Die Europäische Steuerpolitik im Wandel

Autor*innen: Indra Römgens und Aanor Roland

 

Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie Anfang 2020 war die Steuerpolitik immer wieder Thema in der Berichterstattung. Mit Antritt der neuen Biden-Regierung haben die internationalen Verhandlungen über die Besteuerung multinationaler Unternehmen neuen Schwung erhalten, da sich die G20-Staaten auf einen globalen Mindestkörperschaftssteuersatz von 15 % und neue Regeln für die Aufteilung der Besteuerungsrechte im Oktober 2021 geeinigt haben. Dies wird erhebliche Auswirkungen auf die EU haben, sowohl mit Blick auf die praktische Umsetzung als auch auf die künftige Ausrichtung der Unternehmensbesteuerung in der EU. Und auch innerhalb der EU selbst gibt es Pläne für grundlegende (Steuer-)Reformen. Die Einigung über NextGenerationEU beinhaltet demnach nicht nur den schuldenfinanzierten Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von 672,5 Mrd. EUR, um den coronabedingten Auswirkungen auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene zu begegnen, sondern auch die Einführung neuer Eigenmittel. Hierzu zählen z.B. eine Kunststoffabgabe, eine Digitalsteuer oder eine Finanztransaktionssteuer. Um diese Entwicklungen besser zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Grundlage der Europäischen Steuerpolitik zu werfen.

Spielt die EU überhaupt eine Rolle, wenn es um Steuer geht?

Auf den ersten Blick bleibt die Steuerpolitik eine Kernkompetenz der Mitgliedstaaten, die EU hat (bisher) keine Steuerbefugnisse. Im Gegensatz zu den meisten Politikfeldern wie Binnenmarkt, Umwelt oder Sicherheit und Recht unterliegt die Besteuerung immer noch dem besonderen Gesetzgebungsverfahren: Nur der Ministerrat kann über die von der Europäischen Kommission vorgelegten Legislativvorschläge entscheiden, und das Europäische Parlament hat nur eine beratende Funktion. Darüber hinaus kann der Rat Legislativvorschläge nur einstimmig annehmen, wodurch die kollektive Entscheidungsfindung eingeschränkt wird. Das Veto eines einzigen Mitgliedstaates reicht aus, um eine Initiative zu blockieren. Trotz dieser Beschränkungen sollte der Einfluss der EU auf die Steuerpolitik nicht unterschätzt werden. Bereits in der Anfangsphase der Europäischen Gemeinschaft hat die Kommission eine gewisse Form der Steuerkoordinierung als wesentliche Voraussetzung für den Binnenmarkt angesehen. Wie unser Beitrag zeigt, ist die Steuerharmonisierung im Sinne der Rechtsangleichung viel weiter fortgeschritten, und die EU übt viel mehr Regulierungsmacht im Steuerbereich aus, als oft angenommen wird.

Was sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen direkten und indirekten Steuern?

Dies gilt insbesondere für die Harmonisierung der indirekten Steuern wie der Mehrwertsteuer, die in den Römischen Verträgen aus dem Jahr 1957 rechtlich verankert ist. Die Harmonisierung der direkten Steuern, wie z.B. der Unternehmensbesteuerung, hat sich schwieriger erwiesen. Initiativen zur Koordinierung und Harmonisierung der indirekten und direkten Steuern wurden jedoch mit ähnlichen Zielen vorgeschlagen: der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarktes. Aufgrund der unterschiedlichen Präferenzen der Mitgliedstaaten war die Kommission allerdings selten in der Lage, ambitionierten Empfehlungen durch Expert*innen zu folgen. Sowohl im Bereich der indirekten als auch der direkten Steuern wurden Kompromisse in Form von Übergangsregelungen und gezielten Maßnahmen gesucht, anstatt ein integriertes europäisches Steuersystem zu schaffen. Gleichzeitig sind solche umfassenden Ansätze noch nicht vom Verhandlungstisch verschwunden, wie der jüngste Vorschlag der Kommission für ein einheitliches Regelwerk zur Unternehmensbesteuerung in der EU (BEFIT) zeigt. Während das Funktionieren des Binnenmarktes nach wie vor oberste Priorität hat, sind andere Themen wie der Mehrwertsteuerbetrug, der schädliche Steuerwettbewerb und in jüngster Zeit auch die Steuerhinterziehung und -vermeidung durch Wohlhabende und multinationale Unternehmen auf die EU-Steueragenda gesetzt worden.

Wie hat sich die Unternehmenssteuerpolitik der EU seit der Finanzkrise entwickelt?

Die Entwicklungen seit der Finanzkrise deuten auf eine Abkehr von der marktorientierten Ausrichtung der Europäischen Steuerpolitik hin. Während der Amtszeit der Barroso-Kommission wurden zunehmend marktkorrigierende Elemente aufgenommen, die auf Steuertransparenz und Steuergerechtigkeit abzielen. Zu den Steuertransparenzmaßnahmen gehören beispielsweise die Einführung und Ausweitung des automatischen Informationsaustauschs mit der Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, die seit 2011 sechsmal geändert wurde. 2013 wurde auch die öffentliche länderbezogene Berichterstattung (Country-by-Country Reporting, CbCR) für Finanzinstitute und Unternehmen der Rohstoff- und Forstindustrie eingeführt. Nach jahrelangen Verhandlungen einigte sich der Rat schließlich im September 2021 auf ein öffentliches CbCR für multinationale Unternehmen, was als Durchbruch im Kampf gegen Steuervermeidung angesehen wird. Im Hinblick auf die Steuergerechtigkeit wurden mit der Aufnahme von Vorschriften zur Missbrauchsbekämpfung in die Mutter-Tochter-Richtlinie im Jahr 2015 und der Verabschiedung der Richtlinien zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken in den Jahren 2016 und 2017 Fortschritte erzielt. Die von Kommissarin Vestager seit 2014 durchgeführten Untersuchungen zu staatlichen Beihilfen sind ebenfalls in diese Agenda der Steuergerechtigkeit eingebettet, wie die symbolträchtigen Fälle von Apple, Amazon oder Starbucks zeigen. Die Kommission hat weitere ehrgeizige Vorschläge zur Schaffung einer gemeinsamen Steuerbemessungsgrundlage im Jahr 2016, zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft im Jahr 2018 und zur Reform des Abstimmungsverfahrens im Ministerrat hin zur qualifizierten Mehrheit (im Gegensatz zur Einstimmigkeit) im Jahr 2019 vorgelegt. Aufgrund der politischen Sensibilität dieser Themen und des Widerstands mehrerer Mitgliedstaaten konnte der Rat jedoch noch keine Einigung erzielen. Für diese Projekte eröffnen sich allerdings mit den eingangs erwähnten Fortschritten in den internationalen Verhandlungen zur globalen Mindestbesteuerung neue Gestaltungsmöglichkeiten.

Wie ist dieser Wandel zu erklären?

Wie wir in unserer jüngsten Veröffentlichung gezeigt haben, fanden diese Entwicklungen nicht im luftleeren Raum statt, sondern waren in einen spezifischen Kontext der Politisierung eingebettet Die Finanz- und Eurozonen-Krisen boten einen fruchtbaren Boden für Steuerreformen. Aufgrund der Bankenrettungsprogramme brauchten die Staaten dringend Steuereinnahmen und unter den normalen Bürger*innen und Steuerzahler*innen breitete sich ein gewisser Unmut und ein Gefühl der Ungerechtigkeit aus. Die Politisierung der Besteuerung wurde durch wichtige Entwicklungen auf der internationalen Bühne (mit politischer Steuerung durch die G20 und koordiniert durch die OECD) sowie durch eine Reihe brisanter Steuerskandale wie LuxLeaks oder die Panama Papers weiter verstärkt. In dieser Ära der Politisierung ergaben sich neue politische Möglichkeiten, und das Spektrum der an der EU-Steuerpolitik beteiligten Akteur*innen erweiterte sich um NGOs und Steueraktivist*innen wie das Tax Justice Network, Oxfam oder Transparency International. Gleichzeitig gewannen deren Forderungen für mehr Steuergerechtigkeit an Sichtbarkeit und Legitimität – auf Kosten der bisher dominierenden Wirtschaftsinteressen. Kräfte innerhalb der Europäischen Kommission und des Parlaments nutzten diesen politisierten Kontext, um die für die EU-Steuerpolitik charakteristische Politikverflechtungsfalle zu überwinden und Probleme der Steuerhinterziehung und -vermeidung anzugehen. Mit der Covid-19 Krise und dem daraus folgenden akuten Bedarf an Staatseinnahmen, der Einigung auf einen globalen Mindeststeuersatz und der jüngsten Veröffentlichung der Pandora Papers ist die Politisierung der Besteuerung immer noch in vollem Gang. Vor diesem Hintergrund kann sich die Politikwissenschaft mit der Europäischen Steuerpolitik auf einen vielversprechenden Forschungsgegenstand freuen.

 

Über die Autor*innen:

Aanor Roland ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld und promoviert zur Europäischen Steuerpolitik seit der Finanzkrise.

Indra Römgens promoviert an der Radboud Universität in Nijmegen und ihre Forschung fokussiert auf die Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in der EU.

Über die Serie:

Diese Blogserie bietet einen Ausschnitt aus dem „Handbook on the Politics of Taxation“, das die aktuelle Forschung zur Analyse der Steuerpolitik zusammenfasst. Die Beiträge diskutieren wichtige Handelnde, die Rolle von Ideen und Institutionen und wie diese die Steuerpolitik beeinflussen, sowie welchen Einfluss die Steuerpolitik auf wichtige gesellschaftliche Ziele wie Gleichheit, Regierungsfähigkeit oder Demokratie hat. Die Autor*innen beleuchten hierbei verschiedenste Untersuchungseinheiten – von historischer zu zukünftiger Besteuerung, von subnational zu international und vom globalen Norden in den globalen Süden.

Dieser Beitrag basiert auf Kapitel 18 des Handbuchs: Indra Römgens und Aanor Roland (2021): The politics of taxation in the European Union. In: The Handbook on the Politics of Taxation, Hakelberg/Seelkopf (eds.). Chapter 18: 276-291.