Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Steuerpolitik: Die Rolle kriegerischer Auseinandersetzungen

Autor*innen: Patrick Emmenegger und André Walter

 

Die Bedeutung des Krieges für die Entstehung des modernen Steuerstaates nimmt seit jeher eine zentrale Stellung in der sozialwissenschaftlichen Forschung ein. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägten Wissenschaftler wie der Historiker Otto Hintze und der Soziologe Max Weber die sogenannte «Bellizismus-These»: den Zusammenhang zwischen kriegerischen Auseinandersetzungen und dem zunehmenden Gewicht von Steuern zur Finanzierung des Staatshaushalts. Die Kosten für die Mobilisierung moderner Armeen machten die Suche nach neuen Finanzierungsquellen notwendig, da die steigenden militärischen Ausgaben nicht mehr durch herkömmliche Einnahmequellen (Verbrauchssteuern, Zölle etc.) gedeckt werden konnten. Obwohl die «Bellizismus-These» in der Politikwissenschaft weiterhin weitgehend akzeptiert ist, haben eine Vielzahl von neueren Beiträgen diverse Schwachstellen identifiziert und Weiterentwicklungen vorgeschlagen. Diese Beiträge zielen auf die Konzeptionalisierung von Krieg und Steuern, die genaue Art und Weise wie Krieg das Steuersystem beeinflusst sowie den Gültigkeitsbereich der These.

Während frühere Ansätze vor allem militärische Auseinandersetzungen als solche ins Zentrum rückten, haben neuere Arbeiten das Kriegsverständnis ausgeweitet und präzisiert. Einerseits spielen Eigenschaften des Krieges wie der Grad der Mobilisierung, die Zerstörung oder die Relevanz nichtstaatlicher Akteur*innen als Konfliktparteien eine entscheidende Rolle. Andererseits wird untersucht, ob bereits zwischenstaatliche Rivalitäten in Form von regelmässigen Kriegsdrohungen zur Ausweitung der Besteuerung ausreichen, ohne dass diese Rivalitäten notwendigerweise als kriegerische Auseinandersetzungen enden müssen.

Weitere theoretische Unschärfen betreffen die Frage, wie Krieg das Steuersystem verändert. Während die Forschung einen Einfluss von Krieg auf das Steueraufkommen als Anteil des Bruttoinlandproduktes beobachtet hat, besteht weniger Klarheit darüber, welche Aspekte der Besteuerung durch Krieg beeinflusst werden. Die Möglichkeiten sind zahlreich und reichen von der Einführung neuer Steuern über die Erhöhung von Steuersätzen und der Reduktion des Kreises steuerbefreiter Subjekte bis hin zur konsequenteren Implementation bestehender Gesetze durch die Stärkung der zuständigen Behörden. Obwohl empirische Untersuchungen gezeigt haben, dass Krieg primär höhere Steuersätze anstatt neuer Steuern zur Folge hat, konnten aufgrund der mangelnden Datenlage noch nicht alle Aspekte genügend beleuchtet werden.  

Des Weiteren weisen neuere Beiträge darauf hin, dass kriegerische Auseinandersetzungen nicht nur kriegsspezifische Kostenfolgen haben, die ein höheres Steueraufkommen erfordern, sondern auch über andere Mechanismen höhere Staatsausgaben notwendig machen. Erstens führt Krieg zu einer Zunahme gesellschaftlicher Ansprüche an den Staat. Dabei kann es sich um Gruppen wie erwerbsunfähige Veteranen, Flüchtlinge und Hinterbliebene als auch um vom Krieg negative betroffene Wirtschaftszweige handeln. Zweitens basiert moderne Kriegsführung auf der massiven Umstrukturierung des öffentlichen Lebens. Die Mobilisierung, Bewaffnung und Versorgung signifikanter Teile der Bevölkerung erfordert den Ausbau der Transportinfrastruktur und der Einführung einer weitgehend staatlich gesteuerten Kriegswirtschaft. Drittens führt Krieg zu verstärkten Forderungen nach Umverteilung. Die mit der Rekrutierung verbundenen Folgen wie Verdienstausfälle, ungenügende monetäre Kompensation, Invalidität und Tod betreffen primär sozial schwächere Gruppen. Da reichere Haushalte von den finanziellen Nachteilen weniger in Mitleidenschaft gezogen werden und sich den physischen Gefahren oftmals entziehen können, kommt es in Kriegszeiten verstärkt nach Forderungen, dass auch reichere Haushalte Opfer in Form höherer Besteuerung zu erbringen haben («Equality of Sacrifice»). 

Unklarheit besteht auch darüber, warum Krieg weit über das Ende der Kriegshandlungen hinaus einen Einfluss auf das Steuersystem hat. Einerseits muss Krieg nicht einen unmittelbaren Effekt haben, da militärische Kosten auch teilweise schuldenfinanziert werden können. Rückzahlungen werden meist erst nach Kriegsende fällig, wodurch sich der Fiskaldruck zeitlich verlagert, was jedoch die Identifizierung des Zusammenhangs zwischen Krieg und Steuern verkompliziert. Andererseits stellt sich die weitgehend unbeantwortete Frage, warum das Steuersystem nach Kriegsende nicht in den Vorkriegszustand zurückversetzt wird. Potenzielle Erklärungen sind veränderte Steuerpräferenzen von Bürger*innen aufgrund von Kriegsbetroffenheit und vorherrschende politische Mehrheitsverhältnisse.           

Eine weitere zentrale Frage betrifft den Anwendungsbereich der «Bellizismus-These». Die meisten empirischen Arbeiten fokussieren auf (West-)Europa und Nordamerika, wobei die wenigen existierenden Arbeiten zu nichtwestlichen Ländern die «Bellizismus-These» eher kritisch bewerten.  Eine Reihe von Beiträgen hat versucht, die Bedingungen zu identifizieren, die den Zusammenhang von Krieg und Besteuerung beeinflussen. Als potenzielle Faktoren wurden demographische Aspekte wie Bevölkerungsdichte und ethnisch-sprachliche Diversität, ökonomische Entwicklung und Industrialisierung, alternative Finanzierungsmöglichkeiten wie Verschuldung und Rohstoffeinnahmen sowie bestimmte institutionelle und organisatorische Voraussetzungen identifiziert.

Trotz der reichhaltigen Literatur zur «alten» Frage des Zusammenhangs zwischen Krieg und Steuern kann somit gesagt werden, dass auch weiterhin ein grosser Forschungsbedarf existiert, um die Rahmenbedingungen und Mechanismen der «Bellizismus-These» besser zu verstehen.

 

Über die Autor*innen:

Patrick Emmenegger ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen, Schweiz.

André Walter ist SNF Ambizione-Beitragsempfänger an der Universität Zürich, Schweiz.

Über die Blogserie:

Diese Blogserie bietet einen Ausschnitt aus dem „Handbook on the Politics of Taxation“, das die aktuelle Forschung zur Analyse der Steuerpolitik zusammenfasst. Die Beiträge diskutieren wichtige Handelnde, die Rolle von Ideen und Institutionen und wie diese die Steuerpolitik beeinflussen, sowie welchen Einfluss die Steuerpolitik auf wichtige gesellschaftliche Ziele wie Gleichheit, Regierungsfähigkeit oder Demokratie hat. Die Autor*innen beleuchten hierbei verschiedenste Untersuchungseinheiten – von historischer zu zukünftiger Besteuerung, von subnational zu international und vom globalen Norden in den globalen Süden.

Dieser Beitrag basiert auf Kapitel 3 des Handbuchs: Patrick Emmenegger and André Walter (2021): War and taxation: the father of all things or rather an obsession? In: The Handbook on the Politics of Taxation, Hakelberg/Seelkopf (eds.). Chapter 3: 32-46.