Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Global Justice Now! Für eine Politisierung der Skalen

Kämpfe ums Globale werden seit Langem hart geführt. Slobodian hat gezeigt, wie die „Globalists“ – eine Gruppe neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler – im Laufe des 20. Jahrhunderts einen explizit globalen Plan umsetzten. Dabei schafften sie es von der Mont Pèlerin Society bis zur Welthandelsorganisation (WTO), eine Ökonomie voranzutreiben, die in ihrer Interdependenz und dem weltumspannenden Ausmaß der ihr zugrundeliegenden kapitalistischen Grundsätze durchaus als „global“ bezeichnet werden kann. Dagegen mobilisieren Aktivist*innen mit ihrer alternativen Globalerzählung von „Global Justice“ und versuchen damit, verschiedene nationale und sektorale Grenzen zu überbrücken.

Diese Versuche, den eigenen Bezugsrahmen zu globalisieren, kritisieren feministische Autor*innen wie Mohanty seit Langem. Ihnen zufolge ist es ein Fehler anzunehmen, dass durch die „Globalisierung“ der Kämpfe ein Feminismus ohne Grenzen hergestellt werden könne, beziehungsweise dass diese Grenzen einfach durch ein kosmopolitisches Projekt („wir sitzen alle im selben Boot“) wegzudenken seien. Noch drastischer formuliert es Dhawan, wenn sie argumentiert, dass die Produktion kosmopolitischer Globalismen nur dazu diene, das gute Gewissen westlicher Liberaler zu nähren, im Effekt aber die Neoliberalisierung der Welt vorantreibe und durch den Abbau von Staatsgrenzen nur zur weiteren Ausbeutung der Arbeiter*innen, gerade im „globalen“ Süden, beitrage. Gemeinsam haben diese Perspektiven, dass sie „das Globale“ als Fiktion benennen. Eine Fiktion, die allerdings wirkmächtig ist und Exklusionen herstellt. Diese sollen dadurch umgangen werden, dass Bewegungen sich – anstatt von „globaler Solidarität“ zu fabulieren – auf konkrete Solidarität „im Lokalen“ konzentrieren sollten.

Zwar haben die Kritiker*innen Recht damit, dass das Leben auf der Welt nicht „global“ ist und dass dementsprechende kosmopolitische Annahmen Gefahr laufen, real existierende Ausschlüsse zu kaschieren, anstatt sie abzuschaffen. Allerdings kann die Kategorie des Globalen unterschiedlich mobilisiert werden: einerseits als Fiktion und andererseits als imaginäre Institution. Während der erste Ansatz so tut, als seien „wir alle“ im selben Boot, und damit reale Ausschlüsse depolitisiert, organisiert letzterer einen Möglichkeitsraum für Solidarität über Grenzen hinweg – ohne dabei dem kosmopolitischen Trugschluss des Globalen zu verfallen. Dies verlangt eine Politisierung der Scales oder „Maßstabsebenen“, um die es in dieser Blogreihe geht.

 

Die globale Welt als Fiktion

Die Fiktion des Globalen wurde vielfältig kritisiert, insbesondere aus einer dekolonialen Perspektive mit Verweis auf verschiedene Welten, die parallel existieren. Darauf aufbauend kritisiert Dhawan den globalistischen Ballast, der sich im linken Aktivismus für „globale Gerechtigkeit“ trotzdem hält. Sie argumentiert taktisch für eine stärker national orientierte Linke. Entgegen der Euphorie über deren transnationale Organisation unter dem Schlagwort der globalen Gerechtigkeit in den 1990er und frühen 2000er Jahren stellt sie einen solchen Rahmen in Frage. Denn dieser ignoriere die spezifische historische Positionierung der Individuen, die in der Lage seien, „globale Solidarität“ und universelles Wohlwollen zu proklamieren. Damit würde die Trennung zwischen jenen, die geben, und denen, die empfangen, stets aufs Neue in die Welt eingeschrieben. So entlarvt Dhawan die intime Beziehung liberaler kosmopolitischer Solidaritätsartikulationen mit den globalen Herrschaftsstrukturen, denen sie sich angeblich widersetzen. Diese Solidarität basiere auf dem globalen Kapital als einer notwendigen Voraussetzung für die Entstehung einer zeitgenössischen kosmopolitischen Sensibilität. Die Privilegien der globalen Elite blieben dabei unangetastet und die Kontinuitäten zwischen Kosmopolitismus, Neokolonialismus und wirtschaftlicher Globalisierung würden vertuscht. Aus dieser Perspektive trägt „Global Justice“-Aktivismus durch die Verschleierung der Machtstrukturen innerhalb der Zivilgesellschaft dazu bei, in transnationalen Happenings die Abhängigkeit unterdrückter Subjekte zu reproduzieren.

 

Die globale Welt als Imaginär

 

Nun hat sich allerdings auch in aktivistischen Kreisen längst eine Haltung durchgesetzt, die sich an der Existenz verschiedener Rationalitäten und Weltwahrnehmungen orientiert. Differenz wird hier als konstitutiv verstanden: dass unterschiedliche Gruppierungen mit mehr oder weniger schwerewiegender und unterschiedlich artikulierter Diskriminierung und Ausbeutung zu tun haben, ist eine geteilte Einsicht. Die Anerkennung dieser Differenz wird daher häufig als erster Schritt für Zusammenarbeit angesehen. An anderer Stelle habe ich herausgearbeitet, dass aus der berechtigten Kritik des Globalen deshalb nicht folgen muss, dass Aktivismus sich nun ins „Lokale“ zurückziehen sollte. Vielmehr lässt sich erst durch das Imaginär des Globalen eine solidarische Politik erzeugen, die über eine kommunitaristische, also vornehmlich an der „eigenen“ Gemeinschaft orientierte, Volkstümlichkeit hinaus zu Beziehungsarbeit anregt. Es gilt hier, zwischen dem Globalen als deskriptiver Kategorie und dem Globalen als anzustrebenden Rahmen für kollektives Handeln zu unterscheiden. Aufbauend auf Dean nenne ich das einen „gemeinsamen politischen Horizont“. Der gemeinsame Horizont ist per definitionem nicht mit gegebenen Verwaltungseinheiten befasst. Es ist „der Horizont des politischen Kampfes nicht für die Nation, sondern für die Welt“. Durch die Figur der Genoss*in etwa wird die Gleichheit zwischen unterschiedlich positionierten Akteur*innen in der Aspiration eines gemeinsamen politischen Horizonts hergestellt. So verstanden ist das Globale für grenzüberschreitenden Aktivismus notwendig, aber sein Zweck ist es, ein politisches Begehren zu schaffen und nicht als deskriptive geographische Kategorie zu fungieren. Es ist gerade die ideologische Überfrachtung des Globalen, die für die Organisation und Ausübung von Solidarität genutzt werden kann. Das Globale verliert seine beschreibende Natur und wird zu einer politischen Leitlinie: es ist nicht Fiktion, sondern Imaginär.

 

Für eine Politisierung der Skalen

 

Ein Imaginär ist eine symbolisch visualisierte Vorform des Realen, welche das kollektive Hervorbringen sozialer Ordnung mitprägt. Castoriadis zeigt dies am Begriff der Produktionsverhältnisse: Diese seien „ein reales und zugleich symbolisches Netz, das sich selbst sanktioniert, also eine Institution“ (213-214). Hierbei betont er jedoch den materiellen Aspekt dieser Konstruktion. Gesellschaften sind mit Symbolsystemen konfrontiert, von denen jede*r weiß, dass sie auch anders sein könnten. Jedoch lernen gesellschaftliche Subjekte schnell, dass ein Symbolsystem als kohärente Ordnung (Infrastruktur) zu behandeln ist: Eine erfundene Institution als Erfindung zu bezeichnen, schafft diese nicht ab. Was Castoriadis nun ins Zentrum seiner Theorie des Imaginären stellt, ist „die Fähigkeit ein Bild hervorzurufen“ (218). So erfülle jedes Imaginär eine gesellschaftliche Funktion, schieße aber über diese Funktion hinaus.

Auf dieses Hinausschießen zielt mein Beitrag ab. Es geht nicht um die Frage, ob Konstrukte wie „das Lokale“ und „das Globale“ existieren oder nicht, sondern vielmehr darum, ihren symbolischen Überschuss zu nutzen und zu politisieren. Ob die Welt „global ist“ oder nicht, ist keine erkenntnistheoretische, sondern eine politische Frage. Denn „das Lokale“ ist, wie ich an anderer Stelle argumentiere, auch nicht mehr oder weniger „real“ als „das Globale“. Es nützt dazu, gewisse Politiken in historisch situierten Diskursen als legitim auszuzeichnen, da „lokale Lösungen“ in jenen Kontexten als adäquat eingeschätzt werden. Die „Politics of Scale“ verweisen für soziale Bewegungen demnach nicht auf die Frage, ob einer vermeintlich fiktionalen Globalität der Rücken zugekehrt werden sollte, weil jene mit neoliberalem Kosmopolitismus assoziiert wird. Vielmehr geht es (um den Kampf) um den symbolischen Überschuss aller Skalen selbst, den es zu füllen (zu gewinnen) gilt. Reale Kämpfe aufgrund der Fiktionalität ihrer Bezeichnung zu meiden, wäre schließlich das Gegenteil von Politik.

 

Über den Autor:

Felix Anderl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Über die Blogserie:

Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie zum Themenschwerpunkt „Politics of Scale in der deutschen Politikwissenschaft“. Alle Beiträge sind aus einem gemeinsamen Onlineworkshop im November 2020 entstanden, der durch die Autor*innen des einführenden Beitrags organisiert wurde. Wir danken allen Teilnehmer*innen für ihre Beiträge und der DVPW Themengruppe IB-Normenforschung für die Unterstützung des Workshops.  

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