Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Die “Politics of Scale” in der deutschsprachigen Politikwissenschaft: Warum sich eine breitere Diskussion des Konzepts lohnt

Eine gemeinsame Sprache für die Problematisierung von statischem Raum und unsichtbarer Hierarchie?

Die deutschsprachige Politikwissenschaft und ihre Subdisziplinen arbeiten traditionellerweise mit unterschiedlichen Verständnissen und Konstruktionen von Raum, wenn sie sich ihren Forschungsgegenständen nähern. Während die Vergleichende Politikwissenschaft und die regionalwissenschaftliche Forschung dabei typischerweise auf „nationale“, innerstaatliche Politik blicken, so interessieren sich die Internationalen Beziehungen (IB) klassischerweise eher für „globale“ oder zumindest grenzüberschreitend-regionale Prozesse, Ordnungen oder Normen. Im Gegensatz dazu generieren die Politische Soziologie und Anthropologie Wissen über das „Lokale“, etwa in Form von Alltagskulturen, Symbolen oder Ritualen. Gemein ist den unterschiedlichen Subdisziplinen, dass sie Konzepte und Kategorien wie place (geografischer Ort), site (Handlungsort), space (Raum) oder level (Ebene) häufig ohne kritische Reflexion gebrauchen. Sie begreifen derartige geografische Begriffe lediglich als Beschreibungunterschiedlicher Analyseebenen. Dabei lassen sie außer Acht, dass diese Begriffe sogenannte „hidden geographies“ (Agnew 1995: 379), also implizite Annahmen über Räumlichkeit beinhalten und ihre Nutzung eine aktive Bedeutungszuschreibungbedeutet.

Dass die Konstruktion von Raum sowohl Ausdruck als auch Mittel von Machtpraktiken ist, bleibt in der Politikwissenschaft oft unterbelichtet. Zwar ist es nicht so, dass es keine Versuche in der politikwissenschaftlichen Forschung geben würde, Raum neu zu denken und zu beforschen. In den IB beschäftigen sich etwa die Forschungen zu externen Interventionen und Friedenskonsolidierung in Nachkriegsgesellschaften mit dem komplexen Verhältnis zwischen „Globalem“ und „Lokalem“. Die Internationale Politische Ökonomie (IPÖ) untersucht Hierarchisierungseffekte beim Zugang zu und der Kontrolle von Ressourcen und Infrastrukturen. Und die Umweltforschung hat mit dem Begriff „planetar“ eine neue Analyseebene in die Forschung eingebracht. Allerdings stehen diese Analysen oft unvermittelt nebeneinander. Die politics of scale stellt vor diesem Hintergrund ein Konzept mit gleichsam integrativer wie kritischer Kraft dar, das sich doppelt nutzen lässt: Es bietet einerseits eine gemeinsame analytische Sprache für bisher unerkannte Schnittflächen von Forschungsansätzen und -ergebnissen unterschiedlicher Teildisziplinen. Andererseits eignet es sich dafür, hegemoniale Konstruktionen von Raum in der politischen und akademischen Praxis aufzudecken.

Bedingungen, Produktion und Effekte von scale(s)

Die politics of scale existiert im anglo-amerikanischen Forschungskontext der Humaneografie und Politischen Ökologie bereits seit langem. Scales können auf Deutsch am besten beschrieben werden als „geographische Maßstabsebenen, auf denen sich Akteure organisieren, Institutionen gebildet werden, soziale Prozesse ablaufen und Konflikte ausgetragen werden“ (Dietz/Vogelpohl 2005: 16). Der geografische Maßstab bildet somit eine „nested hierarchy of bounded spaces of differing size“ (Delaney/Leitner 1997: 93). Er ist jedoch keineswegs natürlich gegeben, sondern vielmehr das Produkt von Akteurshandeln, Diskursen und/oder Strukturen. Der Maßstab ist daher selbst ein inhärent politisches Phänomen. Daraus leitet sich das Konzept der politics of scale ab, welches den umstrittenen Prozess der Konstruktion und Produktion räumlicher Kategorien umschreibt, in denen Wissens- und Machtverhältnisse geordnet und strukturiert werden. Die politics of scale in den Fokus zu rücken, bedeutet somit nachzuzeichnen, wie politische und wissenschaftliche Akteur*innen an der Herstellung etwa des „Lokalen“, „Nationalen“, „Regionalen“ und/oder „Globalen“ beteiligt sind. Solche oft auch konfliktreichen Skalierungsprozesse stehen im Mittelpunkt von politics of scale.  

Während sie in anderen Disziplinen bereits etabliert ist, wurde die politics of scale in der deutschsprachigen Politikwissenschaft bisher noch nicht systematisch reflektiert. Die Beiträge in dieser Blogserie beruhen auf den Ergebnissen eines Workshops, der am 19. und 20. November 2020 von den Autor*innen dieses Beitrags online organisiert wurde. Sie geben erste Impulse dafür, wie das Konzeptgenutzt werden kann, um die Dynamik und Umkämpftheit von Raum und Räumlichkeit quer durch die politikwissenschaftlichen Subdisziplinen und in unterschiedlichsten empirischen Anwendungsfeldern zu erforschen und zu problematisieren.

Zum Mehrwehrt der politics of scale für die Politikwissenschaft: Erste Schritte und Erkenntnisse

Das Politische an Skalierungsprozessen hervorzuheben, also wie und mit welchen Konsequenzen Raum produziert wird, war Kernthema des keynote-Vortrags von Kristina Dietz (FU Berlin bzw. Universität Kassel). Um den Prozess der sozialen Konstruktion von Konflikten um Raum nachzuzeichnen, erwies sich insbesondere die von Towers (2000) geprägte Unterscheidung zwischen „scales of regulation“ und „scales of meaning“ als hilfreich. Demnach können die Praktiken des up-oder downscaling einerseits regulativ erfolgen, indem die Zuständigkeit für bestimmte Politik- und Problemfelder von gewissen Akteur*innen von einer Governance-Ebene auf eine andere verschoben wird (scales of regulation). Andererseits können sie auch interpretativ erfolgen, d.h. durch die räumliche Verlagerung von Bedeutungszuschreibungen und Wertvorstellungen (scales of meaning).

In der Analyse von Raumkonstruktionen ist von zentraler Bedeutung, wer an der Produktion von Maßstabsebenen (nicht) beteiligt ist und somit den Zugang zu Ressourcen und Infrastruktur kontrolliert (oder nicht). Im Gegenzug stellt sich die entscheidende Frage, unter welchen Bedingungen scaling strategisch als Herrschafts- und Widerstandsinstrument genutzt werden kann. Der Beitrag von Alina Brad (Universität Wien), Riccarda Flemmer (Universität Hamburg) und Jonas Hein (Universität Kiel) untersucht dies am Beispiel der Umsetzung von Klimaschutzprogrammen und der Ausweitung des agroindustriellen Ölpalmenanbaus in Indonesien.  

Weiterhin relevant ist aus politikwissenschaftlicher Sicht, welche sozialen und politischen Konflikte durch Skalierung kaschiert, reproduziert oder rekonfiguriert werden, etwa indem Handlungsmacht zwischen Akteur*innen neu verteilt wird. Der Beitrag von Jutta Bakonyi(Durham University) untersucht die Mogadishu International Airport Zone (MIA) als Ort, an dem scales verhandelt werden und in ihrer Widersprüchlichkeit aufeinandertreffen und dadurch insbesondere den Nationalstaat herausfordern. Was Bakonyi als modulares Zonieren bezeichnet, ist eine Praxis der Anordnung von Maßstabsebenen, die Souveränitäts- und andere Konflikte kaschiert.

Die politics of scale  kann zudem Analysen mit etablierten politikwissenschaftlichen Konzepten verfeinern. So zeigt Patricia Rinck (Universität Duisburg-Essen) in ihrem Beitrag zu Post-Konflikt-Transformationsprozessen, dass die Konstruktion bestimmter Maßstabsebenen als Ort einer Intervention eng damit verbunden ist, wie ein Konflikt verstanden, was als sein Kern angenommen und welche „Behandlung“ als erforderlich angesehen wird. Eine Intervention, die primär auf der Ebene des Nationalstaates ansetzt, zielt auf Institutionenbildung, während die Maßstabsebene der local community andere Konflikttransformationspraktiken ermöglicht und eher auf Versöhnung abzielt.

Ähnlich wie bei Interventionen lässt die politics of scale auch einen differenzierteren Blick auf die Analyse von Normen zu, etwa um die in den IB gängige Unterscheidung von „globalen“ vs. „lokalen“ Normen sowie die oftmals damit verbundene Überlegenheit ersterer gegenüber letzteren zu hinterfragen. Anne Menzels (FU Berlin) Beitrag interessiert sich vor diesem Hintergrund für die andauernde Attraktivität des „Lokalen“ als gebräuchlicher Verortung ganz unterschiedlicher Akteur*innen in der Forschung zu Peacebuilding und Entwicklungszusammenarbeit. Er thematisiert die mangelnde Aussagekraft und den eurozentrischen Subtext dieser Verortung. Felix Anderls (HSFK) Beitrag schließlich ist aus Sicht sozialer Bewegungen als Plädoyer dafür zu verstehen, sich „das Globale“ anzueignen und in den Streit über seine Bedeutung einzutreten – in der Absicht einer Politisierung des Imaginärs des Globalen, die einem Rückzug in „das Lokale“ vorzuziehen sei.

„Die Staatszentriertheit ist im Kopf“: Wohin führt uns die politics of scale?

In der deutschsprachigen Politikwissenschaft nehmen kritische Perspektiven auf verschiedene Konzepte von Raum und Räumlichkeit, deren Dynamik und Umkämpftheit zu. Die politics of scale sind dabei implizit bereits in vielen Untersuchungen mitgedacht, wenn auch noch nicht als geteiltes Forschungskonzept oder Forschungsinteresse erkennbar. Die Beiträge in dieser Blogreihe machen einen ersten Anfang, eine gemeinsame Sprache und Konzeption über die Grenzen der Subdisziplinen hinaus zu entwickeln. Immer wieder tauchen Maßstabsebenen jedoch auch als unreflektierte Setzung auf. Ein prominentes Beispiel ist die Staatzentriertheit und/oder die Vorstellung einer quasi-natürlich gegebenen Hierarchie von (Maßstabs-)Ebenen (Wissen 2007), die weiterhin in vielen Teildisziplinen der Politikwissenschaft vorherrschen. Je nach Forschungsfeld und -thema sind bestimmte Maßstabsebenen präsenter als andere – dies gilt auch für die Subdisziplinen. Weil die Sprachverwirrung zwischen Teildisziplinen unterschiedlichen skalaren Zugriffen geschuldet sein kann, ist es Voraussetzung für ein gelingendes intradisziplinäres Gespräch über empirische Forschung, dass räumliche Vorentscheidungen offengelegt und alternative Zugriffe aufgezeigt werden. Dies gibt auch einen neuen Impuls für die kritische Selbstreflexion der Politikwissenschaft in Bezug auf ihr Verhältnis zu Politik und Gesellschaft: Wir alle tragen durch unsere Forschung zu einer Normalisierung von (hierarchisierten) Raumvorstellungen bei, können diese jedoch auch verändern.

 

Über die Autor*innen:

Dr. André Bank ist Senior Research Fellow am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg

Dr. Riccarda Flemmer ist Postdoctoral Lecturer and Researcher an der Universität Hamburg

Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)

Dr. Maren Hofius ist Senior Research Fellow am Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research (KHK/GCR21), Duisburg

Prof. Dr. Hanna Pfeifer ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Radikalisierungs- und Gewaltforschung an der Goethe-Universität Frankfurt/Main und der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)

Dr. Jan Wilkens ist Postdoctoral Lecturer and Researcher an der Universität Hamburg und dem Exzellenzcluster Climate, Climatic Change, and Society (CLICCS)

Weitere Beiträge der Blogserie: 

"Raum und Ressourcen – Die politics of scale von Landrechtskonflikten". Ein Beitrag von Alina Brad, Riccarda Flemmer und Jonas Hein

"Über Staaten, Container und die politische Einhegung globaler Infrastrukturmacht". Ein Beitrag von Jutta Bakonyi

"Die Politics of scale im Peace- und Statebuilding – Was wir aus den Interventionen in Sierra Leone und Bougainville lernen können". Ein Beitrag von Patricia Rinck

"„Lokale“ Zivilgesellschaften und ihre Akteur*innen - was steckt in dieser räumlichen Zuschreibung?" Ein Beitrag von Anne Menzel

"Global Justice Now! Für eine Politisierung der Skalen". Ein Beitrag von Felix Anderl