Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Die politics of scale im Peace- und Statebuilding – Was wir aus den Interventionen in Sierra Leone und Bougainville lernen können

Autorin: Patricia Rinck

Dieser Beitrag geht der Frage nach, welchen Nutzen das politics of scale-Konzept für die Interventionsforschung haben könnte. Im Rahmen internationaler Interventionen greifen externe Akteur*innen in einen Konfliktkontext ein, trennen kämpfende Seiten voneinander, bringen sie an den Verhandlungstisch und stoßen umfassendere Transformationsprozesse an, die Friedenskonsolidierung (Peacebuilding), Staatsaufbau (Statebuilding) und Entwicklung zum Ziel haben. Für Intervenierende stellt sich dabei die Frage, welche Akteur*innen, Institutionen oder Strukturen sie im Land unterstützen sollen. Meist liegt der Fokus in der Praxis internationaler Interventionen auf der nationalstaatlichen Ebene, weil eine ggf. vorhandene mehr oder weniger legitime Regierung völkerrechtlich bedingt die ‚natürliche‘ Ansprechpartnerin für internationale Interventionen ist. Die Produktion von scales oder „Maßstabsebenen“ wird also zunächst von politischen Akteur*innen und Praktiker*innen vorgenommen und in der Forschung entweder übernommen – so in der Mainstream-Forschung zu liberalem Peacebuilding und Statebuilding – oder kritisch in Frage gestellt. Strömungen der kritischen Friedensforschung etwa kritisieren die Konzentration der Interventionspraxis auf nationale Institutionen und urbane Eliten. Der local turn im Peacebuilding hat diese Themen prominent aufgegriffen und ‚lokalen‘ everyday peace in den Mittelpunkt gerückt, also ‚lokale‘ Akteur*innen und deren ‚alltägliche‘ Vorstellungen von und Wege zu Versöhnung und Frieden. Vor diesem Hintergrund haben Debatten um relational peacebuilding die Interaktionen zwischen Intervenierenden und den ‚Intervenierten‘ stärker unter die Lupe genommen und auf die Bedeutsamkeit von Beziehungs- und Vertrauensaufbau zwischen ‚internationalen‘ und ‚lokalen‘ Akteur*innen über die formell festgelegten Aufgaben der Mission hinaus hingewiesen.

Produktion von scales in der Praxis: die Interventionen in Sierra Leone und Bougainville

Ein Vergleich der recht unterschiedlichen Peacebuilding-Interventionen in Sierra Leone und Bougainville ist auch aus einer politics of scale-Perspektive aufschlussreich. Beide Länder litten in den 1990er Jahren unter blutigen Kriegen – Bougainville unter einem Sezessionskrieg mit Papua-Neuguinea (1988-1998/2001) und Sierra Leone unter einem Bürgerkrieg mit Rebellen der Revolutionary United Front (1991-2002). Darauf folgten sehr unterschiedliche Peacebuilding-Prozesse: Der sierra-leonische gilt oft als Paradebeispiel für das sogenannte ‚liberale‘ Peacebuilding; dem Peacebuilding-als-Statebuilding-Ansatz folgend, galten die Anstrengungen vor allem dem Ziel, die schwachen nationalstaatlichen Institutionen zu stärken und zu reformieren sowie Fortschritte in den Bereichen Sicherheit, Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung zu erreichen. Der Fokus externer Akteur*innen lag daher stark auf der Zusammenarbeit mit Eliten auf der nationalen Ebene und dem Institutionenaufbau in der Hauptstadt. Anderen Themen wie etwa Versöhnungsprozessen wurde weit weniger Bedeutung beigemessen, auch wenn es internationale Bemühungen im Rahmen einer Truth and Reconciliation Commission (Wahrheits- und Versöhnungskommission) gab.

Im Peacebuilding-Prozess auf Bougainville wurden andere Schwerpunkte gesetzt. Die internationale Intervention bestand aus einer verhältnismäßig kleinen, unbewaffneten Mission, deren Sicherheit durch die Einbettung in die Communitygewährleistet wurde. Der Schwerpunkt der Mission lag nicht so sehr im Aufbau von Institutionen; vielmehr ging es darum, Versöhnungszeremonien zu ermöglichen. Durch diese andere Schwerpunktsetzung sind Hierarchien und Machtverhältnisse zwischen ‚lokalen‘ und ‚internationalen‘ Akteur*innen zwar nicht verschwunden, aber ‚lokale‘ Akteur*innen haben deutlich mehr Einfluss und Kontrolle über ihren Peacebuilding-Prozess erhalten. Durch Interaktionen bei Meetings, Sportevents oder im Gottesdienst sowie die praktische, alltägliche Unterstützung der ‚lokalen‘ Akteur*innen über das Mandat der Mission hinaus entwickelten sich im Laufe der Zeit persönliche Beziehungen und Vertrauen zwischen ‚internationalen‘ und ‚lokalen‘ Akteur*innen, die für den Friedensprozess als mindestens genauso wichtig eingeschätzt wurden wie die eigentlichen, formalen Aspekte der Mission.

Scales sind nicht neutral oder ‚natürlich‘ gegeben: die Rolle der Intervenierenden

Aus einer politics of scale-Perspektive betrachtet können Bougainville und Sierra Leone als Beispiele für eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung internationaler Akteur*innen gelten: In Sierra Leone erfolgte die Intervention wie gewöhnlich auf der nationalen Ebene, in Bougainville auf der ‚lokalen‘ bzw. Community-Ebene. Aus diesen verschiedenen Ansätzen folgte die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Akteur*innen und führte insgesamt zu einer anderen Ausgestaltung der Transformationsprozesse. Die beiden Fälle zeigen also, welchen Unterschied eine andere Skalierung, d.h. der Fokus auf eine andere Maßstabsebene, machen kann, wenn man international unterstütztes Peacebuilding nicht so sehr – wie normalerweise üblich – im Sinne des Statebuilding versteht, sondern eher als ein interkulturelles, relationales Unterfangen, in dem ‚internationale‘ und ‚lokale‘ Akteur*innen in einem alltäglichen Kontext in Kontakt treten. Letztlich vergegenwärtigt die Fokussierung auf die gewählte Maßstabsebene der Intervention die Existenz unterschiedlicher Einschätzungen über Konfliktursachen sowie nötige Maßnahmen zur Bearbeitung des Konflikts: Ist ein Institutionenaufbau auf der nationalstaatlichen Ebene notwendig oder etwa die Versöhnung auf der Community-Ebene denkbar?

Natürlich macht eine stärkere Beachtung der ‚lokalen‘ Ebene allein eine Intervention nicht automatisch gut. Wie Hirblinger und Simons (2015) richtig anmerken, wird der Begriff ‚local‘ häufig in der politics of scale-Debatte verwendet, um zu definieren, was vermeintlich ‚richtiges‘ und ‚gutes‘ Peacebuilding umfasse. In diesem Zusammenhang steht dann auch der Vorwurf der Romantisierung des Lokalen im Raum. Denn auch die ‚lokale‘ Ebene ist natürlich nicht frei von Hierarchien oder Machtkämpfen. Vielmehr geht mit Peacebuilding und insbesondere Statebuilding grundsätzlich eine Umverteilung von Macht und Hierarchien einher, was die Auseinandersetzung mit dem politics of scale-Konzept in diesem Kontext so relevant macht. Nach dem Ende eines Bürgerkriegs werden in Post-Konflikt-Gesellschaften politische Macht und Zugang zu Ressourcen neu ausgehandelt, was in der Regel auch Konflikte darüber beinhaltet, auf welcher ‚Ebene‘ – etwa ‚lokal‘ oder ‚national‘ – bestimmte Themen geregelt werden sollen. Das politics of scale-Konzept hebt hervor, dass scales wie ‚lokal‘, ‚national‘ oder ‚international‘ nicht neutral und natürlich gegeben sind und verdeutlicht, dass externe Akteur*innen durch die Förderung von Akteur*innen und Strukturen einer bestimmten scale unweigerlich einen Einfluss auf die Machtgefüge vor Ort haben. Es könnte den Blick schärfen für die Auseinandersetzung zwischen verschiedensten sozialen Kräften und Gruppen auf unterschiedlichen scales, die je nach Agenda auch unterschiedliche Skalierungen bevorzugen, und so die Debatte um ‚lokal‘-‚internationale‘ Interaktionen im Peacebuilding voranbringen.

Eine politics of scale-Perspektive lädt dazu ein, zentrale Fragen des Peace- und Statebuilding expliziter zu reflektieren. Etwa jene, wessen Intervention oder auch Nicht-Eingreifen durch die Fokussierung auf eine bestimmte Ebene gerechtfertigt wird: Fühlen sich externe Akteur*innen für Probleme auf der ‚lokalen‘ Ebene weniger verantwortlich, wenn sie ihre Ansprechpartner*innen auf der ‚nationalen‘ Ebene verortet sehen? Wem nützt diese vermeintlich normale, vorherrschende Fokussierung auf die ‚nationale‘ Ebene in Peace- und Statebuilding-Prozessen und wessen Interessen werden marginalisiert? Insbesondere wenn einem innergesellschaftlichen Konflikt wie in Sierra Leone nicht nur der Zusammenbruch staatlicher Institutionen, sondern auch ein Vertrauensverlust der Bevölkerung in Eliten vorausging, reicht es nicht aus, allein auf Institutionenaufbau zu setzen. Eine Folge der Konzentration auf nationale Eliten und staatliche Institutionen in einem solchen Szenario kann sein, dass Nicht-Eliten im Prozess benachteiligt werden – je nachdem wie die gesellschaftlichen Bruchlinien verlaufen, kann dies Frauen, junge Menschen, bestimmte ethnische Gruppen oder auch Regionen treffen. In Sierra Leone etwa sind trotz eines international geförderten Dezentralisierungsprozesses große Teile der Bevölkerung, insbesondere Frauen und junge Menschen in ländlichen Regionen, von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen geblieben, was weitreichende Folgen für ihre gesellschaftliche Teilhabe hat.

Mögliche Blindstelle des Konzepts: Vereinbarkeit mit horizontalen Analysen

Damit verbunden stellt sich die Frage, wie sich die politics of scale als vorrangig vertikales Konzept mit Analysen auf der horizontalen Ebene vereinbaren lässt. Die weitgehende Fokussierung von Interventionsprozessen auf den öffentlichen – statt den privaten – Raum hat zum Beispiel gegenderte Auswirkungen: Die Schwerpunktsetzung auf Eliten, formale Prozesse und staatliche Institutionen birgt das Risiko, Frauen* auf allen ‚Ebenen‘ tendenziell zu benachteiligen oder sogar auszuschließen und patriarchale Herrschaftsstrukturen nicht zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, den Zusammenhang mit anderen Machtpraktiken und Herrschaftsstrukturen zu reflektieren, damit der Fokus auf die soziale Konstruktion von scale keine neuen Blindstellen schafft und möglicherweise gegenderte Auswirkungen der Produktion von scales übersieht.

 

Über die Autorin:

Patricia Rinck ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research, Duisburg, und Doktorandin an der Universität Duisburg-Essen

Über die Blogserie:

Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie zum Themenschwerpunkt „Politics of Scale in der deutschen Politikwissenschaft“. Alle Beiträge sind aus einem gemeinsamen Onlineworkshop im November 2020 entstanden, der durch die Autor*innen des einführenden Beitrags organisiert wurde. Wir danken allen Teilnehmer*innen für ihre Beiträge und der DVPW Themengruppe IB-Normenforschung für die Unterstützung des Workshops.  

Weitere Beiträge der Blogserie: 

"Die “Politics of Scale” in der deutschsprachigen Politikwissenschaft: Warum sich eine breitere Diskussion des Konzepts lohnt". Ein Beitrag von André Bank, Riccarda Flemmer, Regina Heller, Maren Hofius, Hanna Pfeifer und Jan Wilkens

"Raum und Ressourcen – Die politics of scale von Landrechtskonflikten". Ein Beitrag von Alina Brad, Riccarda Flemmer und Jonas Hein

"Über Staaten, Container und die politische Einhegung globaler Infrastrukturmacht". Ein Beitrag von Jutta Bakonyi

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