Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Raum und Ressourcen – Die politics of scale von Landrechtskonflikten

Autor*innen: Alina BradRiccarda Flemmer und Jonas Hein

In der Politikwissenschaft ist inzwischen anerkannt, dass die Organisation politischer und sozialer Prozesse nicht mehr nur im Rahmen nationalstaatlicher Politik stattfindet. Politische Arenen liegen zunehmend jenseits des Nationalstaates, auf supra-, internationaler und regionaler Ebene und werden von politischen Akteur*innen erschlossen. Diese räumlichen Veränderungsprozesse sind auch Gegenstand von Mehrebenen-Analysen bzw. von multi-level governance in der Politikwissenschaft, insbesondere mit Blick auf das Zusammenwirken verschiedener Ebenen im Mehrebenensystem der EU. Auch die kritische raumtheoretische scale-Debatte bezieht sich auf räumliche Veränderungsprozesse, richtet hierbei das Interesse allerdings insbesondere auf die soziale Produktion von Maßstabsebenen.

Maßstabsebenen als Ergebnis von umstrittenen und vermachteten Prozessen

Unser Beitrag rückt die Bedeutung der prozesshaften Produktion räumlicher Maßstabsebenen für die Untersuchung von Landrechtskonflikten in den Vordergrund. Wir zeigen, aufbauend auf einem prozesshaften und dynamischen Skalenbegriff, dass der Zugang zu Land (und natürlichen Ressourcen) und der Handlungsspielraum von Akteur*innen in Landrechtskonflikten eng mit den politics of scale verknüpft sind. Ansätze, die mit dem scale-Begriff arbeiten haben gemein, dass Maßstabsebenen als Ergebnis sozialer Praktiken verstanden werden, die strukturierend auf das Handeln von Akteur*innen einwirken und insofern selbst umstritten sind. Verändern sich gesellschaftliche Machtverhältnisse können auch bestehende räumliche Maßstabsebenen hinterfragt werden. Das sogenannte Rescaling beschreibt u.a. soziale Prozesse, die zur Neuverteilung staatlicher Befugnisse führen, zur Schaffung neuer regulativer Ebenen führen und soziale und kulturelle Praktiken beeinflussen. Damit bieten diese Ansätze die Möglichkeit, einen machtsensiblen Blick auf bestehende politische Einheiten und Ebenen als umstrittene, veränderbare Resultate politischer Aushandlungen zu richten.

Eine wichtige Erweiterung der scale-Debatte formulierte George Towers. Er unterscheidet zwischen scales of regulation und scales of meaning. Ersteres bezieht sich auf ineinander verschachtelte räumliche Einheiten, in denen Autoritäten (z.B. Behörden, lokale oder nationale Regierungen aber auch private Akteur*innen oder indigene Gruppen) spezifische Regelsysteme anwenden. Letzteres umfasst spezifische Bedeutungszusammenhänge, die räumliche Einheiten voneinander abgrenzen. Die politics of scale von Landrechtskonflikten in den Blick zu nehmen, hilft die enge Verschränkung von Landrechten bzw. Konzessionen und weiteren Eigentumsverhältnissen mit den spezifischen staatlichen Ebenen, die diese legitimieren, als dynamische und sozialumkämpfe Prozesse zu verstehen. Staatliche Organisationen auf verschiedenen Maßstabsebenen schaffen unterschiedliche und sich manchmal überschneidende Skalen der Regulierung und der Bedeutung. Expliziter formuliert, politische Maßstabsebenen auch durch die Vergabe von Landrechten produziert und reproduzieren sich, wenn diese von Landnutzern (z. B. Unternehmen und Kleinbäuer*innen) akzeptiert werden. Darüber hinaus ermöglicht unser Ansatz neue transnationale Regulations- und Bedeutungsebenen zu berücksichtigen.

Im Folgenden illustrieren wir Anhand von Landrechtskonflikten als Folge der Expansion des agroindustriellen Ölpalmenanbaus und der Umsetzung des Klimaschutzprogramms REDD+ (Reducing Emissions from Deforestation and Degradation) in Indonesien die Relevanz der politics of scale. Beide Phänomene zeigen, dass Reskalierungen ambivalente Prozesse sind, die einerseits bestehende Machtstrukturen verstetigen, andererseits aber auch neue Räume für agency als Handlungsmacht der Akteur*innen eröffnen können.

Landrechtskonflikte und die politics of scale

Die tiefgreifende Transformation und Reskalierung, die sich im Zuge der Dezentralisierungs- und Demokratisierungsprozesses ab Ende der 1990er Jahre ereignete, waren von entscheidender Bedeutung für den Boom des indonesischen Palmölsektors. Verschiedene Reformen der Raum- und Bodenordnung und die politischen Turbulenzen nach dem Ende des autokratischen Regimes unter Präsident Suharto veränderten die Zugangsbedingungen zu Land und erleichterte Unternehmen und lokalen Eliten, aber auch Kleinbäuer*innen sowie indigenen Gruppen den Zugang zum Staatswald. Dieser umfasst ca. 70% der indonesischen Landmasse. Die regionale und lokale Ebene wurden hierbei zu einer wichtigen regulativen Maßstabsebene für Entscheidungen über Landnutzungsfragen aufgewertet. Regionale bzw. lokale Behörden wurden befähigt, Konzessionen für Ölpalmplantagenflächen an Unternehmen zu vergeben – eine Kompetenz, die zuvor überwiegend zentralstaatlichen Behörden vorenthalten und restriktiv gehandhabt worden war. Begleitet wurde diese Reform von teils bis heute andauernden, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Akteur*innen, agroindustriellen Konzernen, Umweltschutzorganisationen, Kleinbäuer*innen sowie indigenen Gruppen.  

Infolge des Dezentralisierungsprozesses wurden vermehrt Konzessionen für Ölpalmplantagen vergeben, wodurch indigene Bevölkerungsgruppen in großem Ausmaß von Landnahmen betroffen waren. Der Dezentralisierungsprozess ermöglichte es ihnen aber auch – häufig mit Unterstützung von Dorfregierungen –, Widerstand gegenüber Landnahmen durch die Agroindustrie zu leisten. So stellten Dorfregierungen Kleinbäuer*innen und Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen Landtitel für besetzte Flächen innerhalb von Ölpalmen-Konzessionen und innerhalb des Staatswaldes aus und stärkten so deren Position gegenüber den Unternehmen. Dies führte jedoch nicht zu einer stabilen Raumneuordnung. Unterstützt durch NGOs beziehen sich insbesondere indigene Bevölkerungsgruppen daher zunehmend auf Regeln transnationaler Zertifizierungssysteme wie dem Roundtable for Sustainable Palmoil(RSPO), um ihre Interessen durchzusetzen. Damit überspringen sie bestehende lokale und nationale Maßstabsebenen (scale jumping) und versuchen so Zugang zu transnationalen Ebenen der Konfliktlösung zu erhalten.

Seit der 13. Konferenz der Klimarahmenkonvention im Jahre 2007 auf Bali haben sich insbesondere die scales of meaning der Landrechtskonflikte in Indonesien verändert. Die Ausweisung von neuen Waldschutzgebieten und privaten Naturschutzkonzessionen im Kontext von REDD+ hat bereits bestehende Konflikte um Land verschärft und Proteste, Bedeutungen und Regelsysteme räumlich reorganisiert. Einige Kleinbäuer*innen und indigene Bevölkerungsgruppen verloren den Zugang zu Land und weiteren natürlichen Ressourcen. Wälder wurden dabei in neue globale scales of meaning eingebettet wie etwa durch ihre Funktion als globale Kohlenstoffsenken und -speicher. Damit führt die Implementierung von REDD+ zu einer erneuten Veränderung von Maßstabsebenen und Machtkonstellationen. Auch in diesem Fall können derartige Veränderungen aber durchaus auch den Handlungsspielraum von Akteur*innen erweitern. Dies gilt Beispielsweise für jene indigenen Bevölkerungsgruppen, die sich auf internationale Abkommen und Konventionen beziehen können.

Voraussetzung für ein solches emanzipatorische Potential und die Erweiterung von bestehender agency  ist das Wissen um Maßstäbe und ihre Bedeutungen. Ein Beispiel dafür ist ein Bewusstsein von unterschiedlichen Rechtsvorstellungen und die Kenntnis bestehender Rechtsnormen wie etwa internationale Abkommen zum Schutz der Rechte indigener Völker und Mittel, um diese einzufordern zu können. Diese Art von Wissen über (inter)nationales Recht und seine Anwendung etabliert eine weitere Asymmetrie – gerade für indigene Gemeinschaften. Daher ist die Praxis wie auch die Forschung zu den politics of scale in der Politischen Ökologie eng mit Forderungen der Dekolonisierung von Ressourcenpolitik und akademischer Wissensproduktion verbunden.

 

Fazit: Skalierung entscheidet über Gewinner*innen und Verlierer*innen

Die Produktion von Maßstabsebenen und die damit verbundene Regulierung von Ressourcenzugang bestimmen über die Verteilung der politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Kosten und Nutzen von Ressourcen. Die scale-Perspektive ermöglicht räumliche Restrukturierung in Bezug auf die Kontrolle und den Zugang zu Ressourcen nicht nur zu verstehen, sondern auch Machtverhältnisse sichtbar und hinterfragbar zu machen. Sie erlaubt es etwa nachzuvollziehen, wie Aushandlungsprozesse auf verschiedenen Maßstabsebenen in Bezug auf Landrechte jeweils bestimmte Akteur*innen ausschließen, die nicht über die notwendigen politischen Ressourcen verfügen, ihre Ansprüche auf den jeweiligen Ebenen geltend zu machen. Das Wissen um die Einbettung lokaler Ressourcenkonflikte in eine transnationale, kritische Perspektive ermöglicht Forschenden wie auch Aktivist*innen, bestehende Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und Veränderungen einzufordern.

 

Über die Autor*innen:

Dr. Alina Brad ist Politikwissenschaftlerin an der Universität Wien

Dr. Riccarda Flemmer ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet an der Universität Hamburg

Dr. Jonas Hein ist Humangeograph und arbeitet an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

 

Über die Blogserie:

Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie zum Themenschwerpunkt „Politics of Scale in der deutschen Politikwissenschaft“. Alle Beiträge sind aus einem gemeinsamen Onlineworkshop im November 2020 entstanden, der durch die Autor*innen des einführenden Beitrags organisiert wurde. Wir danken allen Teilnehmer*innen für ihre Beiträge und der DVPW Themengruppe IB-Normenforschung für die Unterstützung des Workshops.  

Weitere Beiträge der Blogserie: 

"Die “Politics of Scale” in der deutschsprachigen Politikwissenschaft: Warum sich eine breitere Diskussion des Konzepts lohnt". Ein Beitrag von André Bank, Riccarda Flemmer, Regina Heller, Maren Hofius, Hanna Pfeifer und Jan Wilkens

"Über Staaten, Container und die politische Einhegung globaler Infrastrukturmacht". Ein Beitrag von Jutta Bakonyi

"Die Politics of scale im Peace- und Statebuilding – Was wir aus den Interventionen in Sierra Leone und Bougainville lernen können". Ein Beitrag von Patricia Rinck

"„Lokale“ Zivilgesellschaften und ihre Akteur*innen - was steckt in dieser räumlichen Zuschreibung?" Ein Beitrag von Anne Menzel

"Global Justice Now! Für eine Politisierung der Skalen". Ein Beitrag von Felix Anderl