Titelbild: Büro einer kleinen Nichtregierungsorganisation in Nairobi, die Beratung für Überlebende sexualisierter Gewalt anbietet. [Foto: Anne Menzel]
Autorin: Anne Menzel
Eine eigentlich überholte, aber hartnäckige Zuschreibung
Kritik an der Verortung bestimmter Akteur*innen als „lokal“ – insbesondere in Abgrenzung zu „internationalen“ Akteur*innen im Kontext friedens- und entwicklungspolitischer Interventionen – ist eigentlich bereits ein alter Hut. So schrieben Andreas Hirblinger und Claudia Simons bereits im Jahr 2015, es sei mittlerweile weithin anerkannt, dass „das Lokale“ keinesfalls eine feststehende Größe sei und als Konzept mehr Fragen aufwerfe als es beantwortet. Auch der dieser räumlichen Zuschreibung inhärente Eurozentrismus ist eigentlich entlarvt. Bereits in einem 2013er Aufsatz beschrieb Meera Sabaratnam „das Lokale“ als eine zentrale Manifestation des Eurozentrismus, die selbst in kritischer Forschung die Vorstellung einer grundlegenden Andersartigkeit der so bezeichneten Akteur*innen aufrechterhält: „So verstetigt sich die Unterteilung in einen liberalen, rationalen, modernen Westen und einen kulturell andersartigen Raum des ‚Lokalen‘“ (2013: 267; meine Übersetzung).
Und dennoch ist es schwer, sich die Verortung als „lokal“ abzugewöhnen. Wer zu friedens- und entwicklungspolitischen Interventionen forscht und schon einmal versucht hat, einen Artikel ohne Rekurs auf „lokale“ Akteur*innen zu schreiben (oder auch nur darüber nachgedacht hat), wird wissen, was ich meine. Das Konzept der politcs of scale (siehe die Einleitung zu dieser Blogserie) thematisiert genau solche Effekte, nämlich, dass räumliche Zuschreibungen anscheinend natürlich oder zumindest unvermeidlich werden, und fordert dazu auf, sie zu reflektieren. Was genau macht die Verortung bestimmter Akteur*innen als lokal weiterhin so eingängig? Und welche Konsequenzen ergeben sich, wenn man diese räumliche Zuschreibung (womöglich wider besseres Wissen) nutzt? Im Folgenden stelle ich zu diesen beiden Fragen nacheinander Überlegungen an, die nicht abgeschlossen sind, sondern zu Diskussionen anregen und einladen sollen. Ich tue dies vor allem vor dem Hintergrund von Feldforschung mit „lokalen“ zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in Sierra Leone (insgesamt drei Monate in den Jahren 2016 bis 2017) und Nairobi/Kenia (sechs Wochen im Jahr 2018) im Kontext des DFG-geförderten Projekts „Redressing Sexual Violence in Truth Commissions“ (Projektleitung Susanne Buckley-Zistel) und meiner kurzen Tätigkeit als freiberufliche Beraterin für eine internationale Nichtregierungsorganisation (2013 bis 2014).
Vermeintlicher und tatsächlicher Nutzen der Verortung als „lokal“
Liebe Leser*innen, falls Sie es nicht gemerkt haben: Ich habe es oben gerade selbst (wieder) getan, nämlich meine Interview- und Gesprächspartner*innen „lokal“ genannt (die Anführungszeichen machen es nicht besser). Womöglich entsteht bei Ihnen der Eindruck, als sei damit zumindest grob geklärt, um was für Leute es sich handelt. Dies ist der Effekt, der diese Verortung in der wissenschaftlichen Praxis nach wie vor so anziehend macht. Unter ihrer Verwendung lässt sich dann einigermaßen unkompliziert zum jeweils „eigentlichen Thema“ weiterschreiben, als habe eine Klärung stattgefunden – tatsächlich wurde eine Klärung vermieden. Hierin besteht der vermeintliche und tatsächliche Nutzen der Verortung als „lokal“. Vermeintlich liefert die Verortung eine sicher nicht perfekte, aber zumindest halbwegs hilfreiche Klärung. Tatsächlich wird die Klärung umgangen, so dass ohne ausschweifende Erläuterungen (und vielleicht auch ohne tiefergehende Analysen relevanter Beziehungen) weitergeforscht und -geschrieben werden kann. Geklärt wird allenfalls, um wen es nicht geht: nämlich um „internationale“/ausländische Peacebuilding- und Entwicklungspratiker*innen (expats), die für internationale Organisationen und internationale Nichtregierungsorganisationen tätig sind. Dies sind alltägliche politics of scale (im Sinne der Produktion räumlicher und stillschweigend sinngebender Zuordnungen) in der Forschung zu friedens- und entwicklungspolitischen Interventionen.
Ich will mit Blick auf zivilgesellschaftliche Akteur*innen in Sierra Leone und Kenia/Nairobi zumindest ansatzweise die Bandbreite an extrem unterschiedlich situierten Personen illustrieren, die ich oben als „lokal“ zusammengefasst habe. Mein Fokus liegt dabei auf ihren je unterschiedlichen Tätigkeiten (oder Formen von Aktivismus) und Zugangsmöglichkeiten zu externen Geberorganisationen; zu Letzteren gehören transnational tätige Stiftungen, internationale Organisationen, staatliche Entwicklungsagenturen und internationale Nichtregierungsorganisationen auf der Suche nach „lokalen“ Partner*innen.
Abb. 1: Veranstaltung anlässlich des Internationalen Tags für das Recht auf Wahrheit über schwere Menschenrechtsverletzungen und für die Würde der Opfer in Nairobi, März 2018. Im Fokus stand die Forderung nach einem Reparationsprogramm, von dem insbesondere auch Überlebende sexueller Gewalt profitieren sollten. [Foto: Anne Menzel]
Allein zwischen den auf Bild 1 abgebildeten Akteur*innen liegen mit Blick auf Tätigkeiten/Aktivismus und Zugangsmöglichkeiten Welten, wobei ich mich nur auf die Frau am Pult und den neben ihr sitzenden Mann ganz rechts am Podium konzentriere (die anderen waren Vertreter*innen kenianischer staatlicher Institutionen und einer internationalen Geberorganisation). Beide waren in den Bereichen Menschenrechte und Transitional Justice tätig, er im lokalen Büro einer internationalen Nichtregierungsorganisation und sie als selbstständige Aktivistin. Während er als Jurist beispielsweise Vorschläge für zukünftige Rechtsreformen, Reparationen etc. mit ausarbeitete, versuchte sie – selbst eine Überlebende sexualisierter Gewalt – durch ganz unterschiedliche Aktionen (von direkter Hilfe bis hin zu gesellschaftlicher Aufklärungsarbeit) Frauen zu unterstützen, die in der Gewalteskalation nach den 2007er Präsidentschaftswahlen vergewaltigt worden waren und Kinder geboren hatten. Während er ein Einkommen hatte und sich Vollzeit engagieren konnte, versuchte sie bislang weitgehend vergeblich, Gelder für ihre Vorhaben einzuwerben. Zugleich war ihr bewusst, dass eine ihrer zentralen politischen Forderungen, nämlich das Recht auf Abtreibung, in Kenia und auch international zu umstritten war (und ist), als dass sie damit bei Geberorganisationen hätte punkten können.
Abb. 2: Anne Menzel im Gespräch mit einer Aktivistin in Freetown, Januar 2014. [Foto: Henri Myrttinen]
Das zweite Foto zeigt mich im Gespräch mit einer Aktivistin in Sierra Leone, die ich im Rahmen eines Forschungsauftrags für eine internationale Nichtregierungsorganisation interviewte. Anders als die beiden oben beschrieben Aktivist*innen sprach sie kein Englisch, lebte nicht in der Hauptstadt und hatte nie direkten Kontakt mit externen Geberorganisationen gehabt. Unter anderem inspiriert von (vermutlich teils geberfinanzierten) Radioprogrammen hatte sie sich in der Nachkriegszeit (seit 2002) in ihrem Heimatdorf und in der Kleinstadt, in der sie aktuell lebte, für verschiedene Belange – von Mikrokrediten bis Sexualaufklärung – eingesetzt und sie zum Teil selbst vor Ort organisiert.
Verborgene Inhalte und problematische Konsequenzen
Knapp zusammengefasst lässt sich also festhalten, dass die Verortung als „lokal“ insofern wenig aussagekräftig ist, als sie eben nicht eine ganz bestimmte Klasse oder Gruppe, sondern eine unübersichtliche Vielzahl von Akteur*innen als irgendwie gleich oder ähnlich situiert. Aber dies bedeutet nicht, dass diese Verortung inhaltsleer wäre. Sie enthält und transportiert die von Sabaratnam aufgezeigte Prämisse der Andersartigkeit. Mit Blick auf „lokale“ zivilgesellschaftliche Akteur*innen äußert diese Prämisse sich etwa darin, dass sie nicht im Vergleich oder in Zusammenschau mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen im Globalen Norden oder mit internationalen Nichtregierungsorganisationen diskutiert und erforscht werden (zumindest eine einleitende Verknüpfung ist in Menzel 2018 zu finden).
Nehmen wir das zentrale Thema der Geberabhängigkeit. Mit Blick auf zivilgesellschaftliche Akteur*innen im Globalen Süden ist dieses Thema in den letzten Jahren intensiv beforscht worden. Etwas älter sind Interpretationen wie die von Julie Hearn aus dem Jahr 2007, der zufolge es sich bei ihnen um eine neue „Comprador-Klasse“ handle, die von externen Ressourcen und Patronage abhängig sei und, im Gegenzug, die Entwicklungsmaßnahmen des Globalen Nordens propagiere. In jüngerer Zeit wurden solche Diagnosen durch einen Fokus auf die agency (Handlungsfähigkeit) „lokaler“ Akteur*innen abgemildert. Demnach werden externe Normen nicht stets unverändert übernommen, sondern können auch lokalisiert/angeeignet, ignoriert, instrumentalisiert oder sogar abgewiesen werden.
Allerdings sucht man vergeblich nach Studien, in denen die Geberabhängigkeit der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen im Globalen Süden zu Bedingungen zivilgesellschaftlicher Arbeit im Globalen Norden in Beziehung gesetzt und vergleichend oder in Zusammenschau untersucht würde. Die „Lokalen“ und ihre Probleme werden so separat gehalten, obwohl es durchaus Anlässe für Vergleich und Zusammenschau gäbe. Ich will hier abschließend nur in aller Kürze ein Beispiel dafür anführen, dass Geberabhängigkeit auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen in Europa betrifft und beeinflusst. Das Beispiel stammt aus einem kürzlich erschienenen (und mit EU-Geldern finanzierten) Bericht, in dem vor einer Entpolitisierung antirassistischer Bewegungen in Europa gewarnt wird. „Um Kampagnen zu entwickeln, die leicht zu kommunizieren und Geberorganisationen gegenüber gut begründbar sind, werfen Nichtregierungsorganisationen oft radikale politische Inhalte über Bord […]“ (Shafi, Nagdee 2020: 10; meine Übersetzung).
Ausblick
Das Konzept der politics of scale fordert uns auf, Raumkonstruktionen wie das „Lokale“ zu problematisieren und zudem zu hinterfragen, warum und mit welchen (Macht-)Effekten wir sie nutzen. Wenn wir sie allmählich besser durchschauen und sie dennoch nicht sofort und gänzlich loswerden können, so gilt es, nicht zu verzagen. Es gilt nur weiter an Bezeichnungen zu arbeiten, die ohne eurozentrischen Subtext auskommen und Machtbeziehungen aussagekräftiger und präziser benennen, als die Unterteilung in „Internationale“ und „Lokale“ es tut. Alternativen müssen dann auch nicht zwangsläufig räumliche Zuschreibungen beinhalten, wenn räumlich bedingte Unterschiede oder Unterscheidungen nicht das sind, was die jeweiligen Beziehungen im Kern ausmacht (anstelle räumlicher Unterscheidungen kann es beispielsweise im Kern darum gehen, dass bestimmten Akteur*innen Professionalität abgesprochen wird). Mit der Zeit kann es so vielleicht auch naheliegender und üblicher werden, Phänomene, Erfahrungen und Herausforderungen in „globalen“, „nördlichen“ und „südlichen“ Gefilden gemeinsam oder vergleichend zu behandeln.
Über die Autorin:
Anne Menzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS) in Berlin
Über die Blogserie:
Dieser Beitrag ist Teil der Blogserie zum Themenschwerpunkt „Politics of Scale in der deutschen Politikwissenschaft“. Alle Beiträge sind aus einem gemeinsamen Onlineworkshop im November 2020 entstanden, der durch die Autor*innen des einführenden Beitrags organisiert wurde. Wir danken allen Teilnehmer*innen für ihre Beiträge und der DVPW Themengruppe IB-Normenforschung für die Unterstützung des Workshops.
Weitere Beiträge der Blogserie:
"Global Justice Now! Für eine Politisierung der Skalen". Ein Beitrag von Felix Anderl