Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Politisches Denken des 19. Jahrhunderts – Ein Lehrprojekt von Dr. Ulrike Höppner

Autorin: Ulrike Höppner

Der Rahmen

Das Seminar „Politisches Denken des 19. Jahrhunderts“ fand im Wintersemester 2021/22 am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin als Bachelor-Vertiefungsseminar im Bereich Politische Theorie statt. Ich habe die Anforderungen des Seminars bewusst so gestaltet, dass sie auch ohne Besuch der Präsenz-Sitzungen eine aktive und gewinnbringende Teilnahme ermöglichten. Damit konnte ich einerseits der Tatsache Rechnung tragen, dass zunächst auch Präsenz-Sitzungen gewünscht wurden, die aber aus Gründen des Infektionsschutzes nicht von allen wahrgenommen werden konnten. Andererseits konnte so eine mögliche (und auch erfolgte) Umstellung auf digitale Formate reibungslos funktionieren. Am Seminar haben ca. 30 Studierende teilgenommen, wobei jeweils etwa 20 an den (nicht verpflichtenden) Präsenz-Sitzungen teilgenommen haben. Die gemeinsame Zeit diente dem Austausch und wurde wesentlich für Diskussionen in Kleingruppen genutzt, die von den Anwesenden aktive Mitarbeit erforderten. Die Bereitschaft der Studierenden, an einem vierten Semester in dieser Form teilzunehmen und dieses Seminar durch ihr Engagement zu einem Erfolg werden zu lassen, verdient große Anerkennung.

 

Die Ziele

Für mich ist besonders wichtig, Lernen als ganzheitlichen Prozess zu verstehen: das Vermitteln wissenschaftlicher Grundkompetenzen muss eingebettet sein in den Erwerb weiterer professioneller, zwischenmenschlicher und persönlicher Kompetenzen. Die Studierenden sollen als Menschen wachsen können. Zum Abschluss des Seminars sollen sie:

  • ...Grundkenntnisse über das politische Denken des 19. Jahrhunderts erworben haben
  • ...politisch-theoretische Texte kritisch lesen und wesentliche Methoden der politischen Theorie anwenden können
  • ...gemeinsam Texte erstellen und überarbeiten können
  • ...die eigenen Lernprozesse und Teamkompetenzen reflektieren und ggfls. anpassen können
  • ...eigenständig, unter Nutzung bestehender Unterstützungsmöglichkeiten größere Projekte (hier: Hausarbeit) planen und in einer gegebenen Zeit umsetzen können

Erst das Zusammenspiel dieser Ziele macht ein gelungenes Seminar.

 

Die Instrumente

Das SeminarWiki als Hub

Ich nutze seit über 15 Jahren Wikis in meiner Lehre und in diesem Semester diente das Seminarwiki als zentrale Informationssammelstelle für das Seminar: Seminarplan und aktuelle Informationen, Seminar- und weiterführende Texte, Gruppenarbeitsseiten, Mitschriften der Seminarsitzungen, Rückfragen etc. konnten dort bereitgestellt, eingesehen und bearbeitet werden. Das Wiki ist als geschützter Raum konzipiert, das heißt, es ist nur Seminarteilnehmer*innen zugänglich und niemand muss befürchten, dass Geschriebenes an die Öffentlichkeit gerät. Gleichzeitig ist die Kommunikation innerhalb des Seminars nicht auf die Sitzungen selbst beschränkt. Die inhaltlichen Seiten zum „Denken des 19. Jahrhunderts“ werde ich mit Erlaubnis der Studierenden in den kommenden Semestern weiterverwenden.

 

Gruppenarbeit

Damit jede*r aus allen Phasen des Semesters etwas mitnehmen konnte, war das Seminar in drei inhaltliche Blöcke unterteilt: Mensch, Freiheit, Staat. In jedem Block haben die Teilnehmenden in einer Arbeitsgruppe zu einem im Seminar behandelten Denker - Burke, Tocqueville, Marx – gemeinsam gearbeitet.

 

In den Gruppenarbeiten wurden Texte für das Seminarwiki erstellt, die das Thema der jeweiligen Blöcke (Mensch, Freiheit, Staat) in Bezug auf den jeweiligen Denker und auf Zusammenhänge zwischen den Denkern analysierten. In den Diskussionen innerhalb und zwischen den Gruppen konnten die Studierenden ihre inhaltlichen Fragen stellen, so dass in den Sitzungen vertiefende Diskussionen möglich waren. Die Erstellung eines gemeinsamen Textes war eine organisatorische und gruppendynamische Herausforderung, die nicht nur zum inhaltlichen Lernen, sondern auch zur Entwicklung von neuen Arbeitstechniken beitrug. Es wurden nicht einfach additiv Textfragmente zusammengestückelt, sondern tatsächlich gemeinsam an Textteilen gearbeitet. In den Sitzungen wurden die Ergebnisse diskutiert und Änderungsvorschläge erarbeitet, die danach von den Gruppen umgesetzt wurden. So entstand im Laufe des Semesters ein Reader mit Texten und weiterführenden Literaturhinweisen, den die Studierenden am Ende des Seminars als sichtbares Ergebnis ihrer Arbeit (und Ressource) als PDF bekommen haben.

 

Selbstreflexionen

Neben der Arbeit in den Gruppen waren kurze Selbstreflexionen in Textform für die Bescheinigung der aktiven Teilnahme am Seminar gefordert - und tatsächlich halte ich das für eines der wichtigsten Elemente im Lernprozess. Am Ende jeder Gruppenphase musste jede*r eine individuelle Reflexion zur Gruppenarbeit in einem Umfang von ca. 40 Worten einreichen. Es ging darum, folgende Fragen zu beantworteten:

Was habe ich konkret zur Gruppenarbeit beigetragen?

Was habe ich inhaltlich/methodisch gelernt?

Was möchte ich beim nächsten Mal anders/besser machen/organisieren?

Einerseits wollte ich dadurch einen Überblick über den Verlauf der Gruppenarbeiten behalten, um mögliche Probleme früh erkennen zu können. Andererseits war dies für die Studierenden wichtig, um nicht nur inhaltlich zu lernen, sondern auch die Gruppen- und Lernprozesse reflektieren. Die Antworten der Studierenden zeigten ein hohes Maß an Entwicklung dieser Reflektionsfähigkeiten über den Verlauf des Seminars und waren oft länger als 40 Worte, was auch das Bedürfnis der Studierenden nach solchen Reflektionsmomenten zeigt. Bemerkenswert war auch die gesteigerte Zufriedenheit der Studierenden durch das Erkennen eigener Lernerfolge.

Beispiel:

 

Insgesamt hat die Gruppenarbeit der dritten Phase wieder besser funktioniert. Zwar war am Anfang nicht klar, welche Gruppe welche Aufgaben übernimmt, als aber schließlich einfach jemand die Initiative ergriffen hat und angefangen hat, haben sich alle in Bewegung gesetzt. Diesmal habe ich wieder einen Teil der ersten Fassung geschrieben (Burkes Gedanken zur französischen Revolution). Dabei habe ich gelernt, einfach mal irgendwo anzufangen, um reinzukommen, kann super helfen, wenn man nicht genau weiß wo man einen Schreibprozess beginnen möchte/soll.

 

 
 

Hausarbeitsworkshop und Schreibclub

Der Prozess des Schreibens einer Hausarbeit ist eine Herausforderung für die Studierenden. Mein Ziel war es, diesen Prozess systematisch zu begleiten und auch das gegenseitige Feedback in der Gruppe optimal zu nutzen. Jede*r, die einen benoteten Schein erwerben wollte, hatte bis Mitte Januar ein Exposé einzureichen. Auf Basis dieser Exposés fand im Anschluss ein Hausarbeitsworkshop statt, in dem konkrete inhaltliche und methodische Herausforderungen der vorgeschlagenen Fragestellungen miteinander diskutiert werden konnten. Die Teilnehmenden hatten jeweils zwei Exposés von Mitstudierenden gelesen und kommentiert, so dass ein wesentlicher Schwerpunkt das Peer Feedback sein konnte. Für die Studierenden ergab sich aus dem Blick auf andere Exposés oft auch neue Klarheit für ihre eigenen Ideen. Nebenbei ließen sich formale Fragen konzentriert klären. Wir haben dieses Peer Feedback in einem freiwilligen wöchentlichen Schreibclub fortgesetzt, der sehr gut angenommen wurde und die Studierenden motiviert hat, kontinuierlich dranzubleiben. Ich war zwar dabei und habe auch Fragen beantwortet, aber am wirkungsvollsten waren die gegenseitige Ermutigung und die Erkenntnis, dass man mit seinen Problemen nicht alleinsteht. Ich werde das sicherlich wieder anbieten.

 

Was bleibt?

Für mich sind drei Dinge im Rückblick besonders bedeutsam:

Erstens ist es auch im vierten „Corona“-Semester noch einmal gelungen, den Teilnehmenden intensive Diskussionen, umfassende Lernprozesse und sozialen Austausch virtuell zu ermöglichen – so wurde es mir in zahlreichen E-Mails und Gesprächen zurückgespiegelt. Für mich ist das ein ganz wesentliches Element, das auch im zweiten Erfolg „messbar“ wird:  28 Studierende haben das Seminar erfolgreich abgeschlossen, davon 12 mit einer Hausarbeit. Für mich aber wahrscheinlich am schönsten ist, drittens, dass das Seminar beweist, dass wohlverstandenes kompetenzorientiertes Lernen auch in der Politikwissenschaft und der politischen Theorie möglich und sinnvoll ist und sich die Kompetenzen nicht auf die engeren „wissenschaftlichen“ und politikwissenschaftlichen Grundlagen beschränken müssen.

 

Ein ausführlicher Seminarplan – inklusive eines Auszugs des Readers - findet sich hier.

Über die Autorin:

Dr. Ulrike Höppner ist seit langem Lehrbeauftragte am Otto-Suhr-Institut und unterrichtet bereits seit 2006 mit großer Freude in Blended Learning Szenarien. Ihre Promotion (2011) trägt den Titel „Power and Globalization. Patterns of Order in a globalizing world.“ Ihre Interessensgebiete umfassen moderne politische Theorie, insbesondere Arendt und Foucault, Technikphilosophie und Digitalisierung, Ideengeschichte des 16. und 19. Jahrhunderts und Methoden, didaktische wie wissenschaftliche.

Über die Reihe „Herausragende Lehre in der deutschen Politikwissenschaft“
 
Dieser Beitrag wurde für den Lehrpreis Politikwissenschaft 2022 eingereicht. Der gemeinsame Preis von DVPW und Schader-Stiftung wurde 2020 neu geschaffen, um die besondere Bedeutung der politikwissenschaftlichen Hochschullehre sichtbar zu machen und die Qualität der Lehre in der deutschen Politikwissenschaft zu stärken. Der Lehrpreis Politikwissenschaft wurde in diesem Jahr an Dr. Julia Schwanholz und Dr. Ray Hebestreit für ihr Lehr-Forschungs-Projekt „Smart Cities in Theorie, Empirie und Praxis – Eine Lehrveranstaltung in Kooperation mit der Stadt Wesel“ im Wintersemester 2021/2022 an der Universität Duisburg-Essen verliehen. Die Jury möchte mit dieser Blog-Reihe die Vielzahl der Einreichungen innovativer und didaktisch anspruchsvoller Lehrprojekte würdigen.

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