Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Perspektiven der Demokratie

In seiner Antrittsrede vor dem Deutschen Bundestag im März 2017 diagnostizierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier deutliche Tendenzen einer erodierenden liberalen Demokratie. Unter Bezug auf seinen Vorgänger Joachim Gauck wiederholte er dessen mahnende Worte: „Die liberale Demokratie steht unter Beschuss“. Diesem Leitsatz folgend, eröffnete Bundespräsident Steinmeier den DVPW-Kongress „Grenzen der Demokratie – Frontiers of Democracy“ im Herbst 2018 mit der Forderung, eine „breite Debatte über die Demokratie – über ihren Sinn, ihren Wert, über Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen“ zu führen.

Die DVPW hat die Forderung des Bundespräsidenten aufgegriffen und auf ihrem internationalen wissenschaftlichen Kongress vertiefend diskutiert. Rund 1.000 Politikwissenschaftler*innen haben das breite Spektrum demokratischer Herausforderungen und innovativer Entwicklungen aus einer Panorama-Perspektive betrachtet. Die folgenden Blog-Beiträge beleuchten die Entwicklung und das Funktionieren demokratischer politischer Systeme aus verschiedenen politikwissenschaftlichen Blickwinkeln und sollen Diskussionen über die Perspektiven von Demokratie anregen.

 

Vier Herausforderungen für die Demokratie

Politolog*innen in der westlichen Welt betrachtete die liberale Demokratie herkömmlich als sehr erfolgreiche und beste Staatsform. Mit der Europäischen Union als Aushängeschild der supranationalen Zusammenarbeit schien sogar eine neue postnationale demokratische Ordnung jenseits des Nationalstaats möglich zu sein. Die Zukunft sah rosig aus – eine friedliche Welt, in der nationale und internationale Konflikte durch demokratische Regeln und Verhandlungen gelöst werden, war greifbar.

Die jüngsten Ereignisse und Entwicklungen haben jedoch gezeigt, dass die Gegenwart und die Zukunft der Demokratie möglicherweise nicht so rosig verlaufen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen liberale Demokratien vor mindestens vier Herausforderungen: Erstens hat sich die sozioökonomische Situation in vielen Demokratien erheblich verändert. Nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen demokratischen Welt werden die Reichen reicher und die Armen ärmer. Ganze Bevölkerungsgruppen werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt und entfremden sich von etablierten Parteien und anderen politischen Institutionen. Zweitens hat die zunehmende sozioökonomische Ungleichheit zur Folge, dass auf der rechten und linken Seite des ideologischen Spektrums neue Formen des Populismus entstanden. Drittens hat sich die politische Kommunikation in Demokratien fundamental verändert. Die digitale Revolution und insbesondere das Internet, die sozialen Medien und Smartphone-Anwendungen waren wichtige technologische Innovationen, die Bürger*innen, aber auch Parteien, Regierungen und anderen politischen Institutionen neue Kommunikationsformen bieten. Schließlich fordert die Globalisierung die Demokratien auf unterschiedliche Weise heraus: Demokratische Entscheidungen in einem Land wirken sich häufig auf das Leben der Bürger*innen in anderen Ländern aus; in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten verliert die traditionelle, nationalstaatlich organisierte Repräsentation ihre Bedeutung; und schließlich werden Demokratien zunehmend gleichzeitig von globalen externen Schocks bedroht, wie beispielsweise gegenwärtig von der Corona-Pandemie.

 

Reformen und Innovationen für die Zukunft der Demokratie

Demokratische Systeme haben auf diese Herausforderungen auf vielfältige Weise reagiert und die Möglichkeiten politischer Beteiligung über Wahlen hinaus ausgeweitet. Seit den 1990er-Jahren erleben die meisten Demokratien einen umfassenden Wandel in Richtung einer zunehmend aktiven und direkten Einbindung der Bürger*innen in die Willensbildung und Entscheidungsfindung. Diese partizipativen Ansätze beinhalten direkt-demokratische Verfahren, beispielsweise Volksabstimmungen und Referenden, aber auch deliberative Verfahren, in denen Bürger*innen und Expert*innen in sogenannten „Minipublics“ konkrete Probleme diskutieren und gemeinsam Lösungsmöglichkeiten aushandeln. Demokratien werden, so scheint es, zunehmend „demokratisiert“.

In der politikwissenschaftlichen Forschung spiegelt sich dies in der Debatte um verschiedene Modelle von Demokratie und ihre jeweiligen Verfahren für eine demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung wider. Autor*innen, die einen partizipativen Ansatz verfolgen, haben diese neuen Formen der direkten und deliberativen Demokratie ausführlich diskutiert und erforscht. Sie verabschieden sich von dem „dünnen“ Konzept der repräsentativen Wahl-Demokratie und befürworten „dichte“ deliberative und direktdemokratische Konzepte. Wurden diese Modelle lange Zeit in Konkurrenz zueinander gestellt, werden aktuell zunehmend Kombinationen von repräsentativen, deliberativen und direktdemokratischen Verfahren untersucht bzw. entwickelt.

Vor diesem Hintergrund plädieren wir für einen kritischen Umgang mit neuen (und alten) Verfahren der Bürgerbeteiligung. Verschiedene Formen der Beteiligung sollten nur dann als „demokratisch“ angesehen werden, wenn sie als Mittel zur Erfüllung demokratischer Werte dienen. Mit anderen Worten: Nur wenn sie tatsächlich dazu dienen, eine kollektive Willensbildung und Entscheidungsfindung zu fördern, die allen Bürger*innen eine angemessene Chance auf Beteiligung und Gehör bieten, sind diese Verfahren als „demokratisch“ zu betrachten. Dieses bedeutet zugleich, dass Verfahren an sich, z. B. Wahlen oder Volksabstimmungen, nicht per se als ‚Nachweis‘ eines demokratischen Systems dienen. Vielmehr wäre zu untersuchen, ob sie zu Politikentscheidungen führen, die von der Gesamtheit als demokratisch akzeptiert werden.

Ein solcher Ansatz würde die vermeintliche Kluft zwischen verschiedenen Modellen und Verfahren der Demokratie überwinden und dazu anleiten, viel offener über die Zukunft der Demokratie „out of the box“ nachzudenken.
 

Perspektiven der Demokratie: Beiträge zur Debatte

Die folgenden Blog-Beiträge greifen die unterschiedlichen Herausforderungen für die Demokratie auf und diskutieren verschiedene Lösungsansätze. Mit Blick auf die sozioökonomische Situation und Populismus fragen Hanna Schwander, Dominic Gohla und Armin Schäfer „Rettet der Populismus unsere Demokratie?“ und präsentieren die Ergebnisse ihrer Studie über den Zusammenhang von Ungleichheit, Populismus und Wahlbeteiligung. Vor dem Hintergrund der digitalen Revolution erörtern Marianne Kneuer und Mario Datts das besondere Potenzial digitaler Demokratie auf lokaler Ebene. In Anbetracht der Globalisierung hinterfragen Anja Jetschke und Sören Münch das Versprechen einer demokratischen Kontrolle internationaler Politik durch Parlamente und Gerichtshöfe auf der regionalen Ebene weltweit. Rainer Bauböck stellt schließlich grundsätzliche Überlegungen zu Einwanderungspolitik in Demokratien an und formuliert drei Thesen zur demokratischen Legitimität von Einwanderung. Diese und weitere Beiträge zur Debatte auf dem DVPW-Kongress zu den „Grenzen der Demokratie – Frontiers of Democracy“ sind kürzlich in einem Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift (PVS) erschienen.

  

Über die Autor*innen:

 

Ferdinand Müller-Rommel ist Professor of Comparative Politics am Institut für Politikwissenschaft und Zentrum für Demokratieforschung der Leuphana Universität Lüneburg.

Brigitte Geißel hat die Professur mit dem Schwerpunkt Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext und ist Leiterin der Forschungsstelle „Demokratische Innovationen“ am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Als Vorsitzender der DVPW bzw. lokale Organisatorin waren sie 2018 zusammen hauptverantwortlich für die Ausrichtung des 27. Wissenschaftlichen Kongresses der DVPW zum Thema „Grenzen der Demokratie – Frontiers of Democracy“, der vom 25. bis 28. September 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main stattfand.