Die neue Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) nährte eine Reihe hoher Erwartungen. So schürte das Aufkommen des Internets euphorische – teilweise utopische – Visionen, die sich als demokratische Versprechen zusammenfassen lassen. Es wurde u. a. gehofft, dass sich neue Formen der Bürgerbeteiligung etablieren würden, bei denen die Bürger*innen stärker als bislang an öffentlichen Debatten und Entscheidungsprozessen mitwirken – vor allem die zuvor marginalisierten und benachteiligten Teile der Bürgerschaft. Zahlreiche digitale Beteiligungsprojekte blieben allerdings weit hinter den Hoffnungen zurück. Häufig beteiligten sich nur wenige Personen und überdies meist die „üblichen Verdächtigen“ – gut gebildete, politisch interessierte Männer mittleren Alters. Zugleich gab und gibt es gegenteilige Erfahrungen. Wir knüpfen mit unserem Beitrag an die intensiv geführte Diskussion um die Chancen und Risiken der digitalen Demokratie an, indem wir uns auf zwei bislang vernachlässigte Fragen fokussieren: Funktioniert digitale Demokratie am besten auf der lokalen Ebene? Und, genereller gefragt, warum brauchen wir eine räumliche Perspektive auf digitale Demokratie?
Netzpessimisten und Netzoptimisten – verhärtete Fronten
Die Debatte um den Einfluss digitaler Technologien auf die Demokratie lässt sich, grob gesagt, entlang zweier Groß-Hypothesen strukturieren, die sich versteinert haben: Während die eher netzoptimistische Mobilisierungsthese davon ausgeht, dass das Internet mehr und inklusivere Partizipation ermöglichen kann, sieht die netzpessimistische Hypothese eher eine Verstärkung vorhandener Partizipationsmuster der Offline-Welt: Eine ohnehin politisch aktive Minderheit nutzt die zusätzlichen digitalen Beteiligungsmöglichkeiten, wohingegen die Mehrheit der Passiven und schwer Mobilisierbaren auch mit digitalen Beteiligungsinstrumenten nicht erreicht wird.
Der physische Raum als blinder Fleck der Internetforschung
Digitale Beteiligungsinstrumente und ihr Potenzial werden bislang vor allem unabhängig von ihrem räumlichen Anwendungsbereich (lokal, national, international) betrachtet. Das wirft die Frage auf, ob der Erfolg digitaler Angebote und deren Nutzung von dem physischen Raum und der Anwendungsebene abhängt, konkret: ob digitale Beteiligungsformate von einer geringeren räumlichen Nähe profitieren. Wir argumentieren, dass die Frage, ob sich das Internet positiv auf die Qualität der demokratischen Prozesse auswirkt oder nicht, differenzierter betrachtet werden muss, als dies bisher der Fall ist. Insofern bedarf es einer neuen Perspektive, die untersucht, unter welchen räumlichen Bedingungen digitale Demokratie zu mehr Beteiligung führt. Wir vermuten, dass der lokale Raum, also Städte und Gemeinden, eine besonders vielversprechende Ebene für digitale Beteiligungsprojekte ist.
Heilmittel gegen Ermüdungserscheinungen
Bereits Aristoteles stellte die Frage, wie groß ein Gemeinwesen sein sollte, damit eine „gute“ Demokratie verwirklicht werden kann. Seine bis heute diskutierte Schlussfolgerung lautete, dass Demokratie in kleinen Einheiten besser gedeihen kann. Ein Maßstab für eine qualitativ gute bzw. bessere Demokratie besteht darin, möglichst viele Menschen an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Dieses Ziel hat sich in den komplexen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zunehmend zu einer zentralen Herausforderung entwickelt. Bürger*innen fühlen sich oft nicht ausreichend eingebunden in politische Willensbildung, empfinden Politik als fern von ihren Belangen und ihren eigenen Einfluss auf Entscheidungen als gering.
Digitale Beteiligungsprojekte werden als Heilmittel betrachtet, um die direkte Mitwirkung der Bürger*innen auszubauen, den Ermüdungserscheinungen repräsentativer Demokratien entgegenzuwirken, sie zu beleben und ihre demokratische Legitimation zu stärken. Auf welcher Ebene aber sind die Bedingungen besser, um diese Ziele zu erreichen? Bislang ist dies nicht untersucht worden.
Funktioniert digitale Demokratie am besten auf der lokalen Ebene?
Unsere Vermutung ist, dass der lokale Raum vergleichsweise mehr Bürger*innen zur direkten, digitalen Beteiligung mobilisieren kann als Projekte in größeren politisch-administrativen Einheiten (Bundesland, Nationalstaat, EU). Dabei spielen Aspekte wie die Informiertheit über und Betroffenheit von lokalen Angelegenheiten ebenso eine Rolle wie die gefühlsmäßige Bindung an einen Sachverhalt: wie sehr liegt mir dieses Thema am Herzen? Wie wichtig ist es für mich? Nicht zuletzt gibt es Hinweise darauf, dass lokale Entscheidungsträger*innen offener für Eingaben der Bürger*innen sind als dies auf den übergeordneten und räumlich ausgedehnten politischen Ebenen der Fall ist.
Daher unsere These: Territoriale Nähe und Distanz, aber auch kognitive und emotionale Entfernung haben Einfluss auf die Entscheidung von Bürger*innen, sich zu beteiligen. Da diese Nähe stärker in Kommunen und Städten gegeben ist, sind die Chancen besser, Menschen über digitale Beteiligungsformate zu mobilisieren und einzubinden als auf nationaler oder europäischer Ebene. Das heißt: Die Erfolgsaussichten für Mobilisierung, für mehr inklusive Beteiligung und Empowerment sind in kleinen räumlichen Einheiten – also auf der lokalen Ebene – höher als in Nationalstaaten oder etwa der EU.
Abbildung 1
Aristoteles und die digitale Demokratie
Aristoteles Thesen zum Verhältnis zwischen Größe und Qualität einer Demokratie sind auch für das digitale Zeitalter von Bedeutung. Offensichtlich hat die Digitalisierung die Unterschiede, die sich auf den räumlichen Ebenen vorfinden, entgegen den anfänglichen Annahmen nicht vollständig eingeebnet.
Daher plädieren wir dafür, digitale Demokratie bzw. digitale Partizipation räumlich differenziert zu betrachten. Wenn digitale Angebote Lösungen für die Herausforderungen der Demokratie bieten sollen, dann müssen wir ihren Wirkungen auf demokratische Prozesse genauer beleuchten. Es gilt, diese auf den verschiedenen Ebenen und in verschieden großen Räumen zu betrachten und die gewonnenen Erkenntnisse für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts fruchtbar zu machen. Eine raumspezifische Sicht auf digitale Demokratie könnte die versteinerten Fronten zwischen den Netzpessimisten- und den Netzoptimisten aufbrechen.
Stellen sich die Versprechen digitaler Demokratie auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen unterschiedlich dar? Unsere Antwort auf diese Frage lautet ganz klar: Ja!
Über die Autor*innen:
Marianne Kneuer ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim.
Mario Datts ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Hildesheim.