Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Rettet der Populismus unsere Demokratie? Eine Studie über den Zusammenhang von Ungleichheit, Populismus und Wahlbeteiligung

Einleitung

Die Problematik der wachsenden Einkommens- und Vermögensungleichheit in westlichen Demokratien hat in den vergangenen Jahren, insbesondere seit der Veröffentlichung von Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ im Jahr 2014, an Aufmerksamkeit in der politikwissenschaftlichen Forschung gewonnen. Weitgehend etabliert ist ein negativer Einfluss zwischen ökonomischer Ungleichheit und der Wahlbeteiligung. So bleiben Bürger*innen dort häufiger am Wahltag zu Hause, wo größere Ungleichheit herrscht. Dies betrifft sowohl die da oben, die ihre Interessen wirksam über andere Kanäle als das Wählen artikulieren können, als auch die da unten, die wenig Sinn in der Beteiligung an einem System sehen, das ihre Interessen ohnehin nicht zu vertreten scheint.

In unserer gerade erschienenen Studie haben wir untersucht, inwiefern diese Dynamik durch die zunehmende Präsenz populistischer Parteien in den vergangenen Jahrzehnten beeinflusst wird. Unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung versprechen Populisten, dem durch das politische Establishment vermeintlich vernachlässigtem Volk wieder eine unverfälschte Stimme im politischen Prozess zu verleihen. Dies ist gerade für Bevölkerungsgruppen verlockend, die sich von etablierten Parteien nicht vertreten sehen. Unsere Ausgangsthese lautet, dass populistische Parteien gerade diejenigen Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren vermögen, welche in ungleichen Gesellschaften nicht zur Wahl gehen und damit den Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung und ökonomischer Ungleichheit abschwächen. Dadurch könnte Populismus die Qualität einer Demokratie verbessern. Sollte dem tatsächlich so sein, müssten wir bei Wahlerfolgen von Populisten einen schwächeren Einfluss von Ungleichheit auf die Wahlbeteiligung sehen. Doch unsere Analysen können dies nicht bestätigen: Populistische Parteien sind nicht in der Lage, den negativen Einfluss von Ungleichheit auf die Wahlbeteiligung zu mindern.


Der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wahlbeteiligung

Wir testen diesen Zusammenhang auf Grundlage eines Datensatzes mit den Ergebnissen von 296 Parlamentswahlen in 31 europäischen Demokratien zwischen 1970 und 2016. In einem ersten Schritt prüfen wir (s. Abbildung 1), ob unsere Daten die bestehende Erkenntnis eines negativen Zusammenhangs zwischen Ungleichheit und Wahlbeteiligung bestätigen. Als Maß für Ungleichheit verwenden wir den Gini-Wert, der Ungleichheit auf einer Skala von 0 (jeder besitzt exakt gleich viel) bis 100 (eine Person besitzt alles) anzeigt. Und tatsächlich beobachten wir eine solche negative Beziehung: Die zu erwartende Wahlbeteiligung (blaue Linie) sinkt von knapp unter 87.5 % für das Land mit der höchsten Verteilungsgleichheit in unserem Datensatz auf etwa 62.5 % für den Fall der ungleichsten Verteilung von Einkommen – ein beachtlicher Unterschied von 25 Prozentpunkten.

 

Abbildung 1

 


Der Effekt populistischer Parteien

Inwiefern verändern populistische Parteien diesen Zusammenhang?

Wenig überraschend stellen wir grundsätzlich eine Zunahme sowohl der Präsenz als auch der Wahlerfolge populistischer Parteien über den beobachteten Zeitraum fest. Rechtspopulistische Parteien standen in 193 Fällen zur Wahl und erreichten im Schnitt einen Stimmanteil von 14,7 %. Rechtspopulistische Parteien sind damit bedeutend erfolgreicher als linkspopulistische Parteien mit einem durchschnittlichen Stimmanteil von 9,7 % in 63 Wahlen. Abbildung 2 illustriert dies grafisch.

 

Abbildung 2

 

Die Antwort auf die Frage, ob populistische Parteien den Effekt von ökonomischer Ungleichheit auf die Wahlbeteiligung verändern, ist in Abbildung 3 dargestellt. Hinterlegt in hellgrau ist die Häufigkeit der entsprechenden Stimmanteile innerhalb unseres Datensatzes. Wenn ein höherer Wahlerfolg von Populisten den Effekt von Ungleichheit auf Wahlbeteiligung verringern würde, müsste sich die schwarze Linie nach rechts langsam der Nulllinie nähern. Das ist offensichtlich nicht der Fall, selbst dann nicht, wenn wir zwischen Rechts- und Linkspopulisten unterscheiden, wie Abbildung 4 zeigt. Weder Rechts- noch Linkspopulisten verändern den Zusammenhang von Ungleichheit und Wahlbeteiligung.

 

Abbildung 3

 

Abbildung 4

 

In einem letzten Analyseschritt fragen wir, wie sich eine vorherige Regierungsbeteiligung populistischer Parteien auswirkt. Eine Regierungsbeteiligung könnte einerseits populistische Wähler*innen zur Stimmabgabe mobilisieren, um ihre politische Repräsentation durch Populisten zu verteidigen. Anderseits könnten sich Bürger*innen, die dem Populismus kritisch gegenüberstehen, sich zu seiner Abwahl vermehrt an die Wahlurne begeben. Für dieses Modell finden wir tatsächlich einen – wenn auch schwachen – Zusammenhang: Wo Populisten (mit) an der Regierung sind, sinkt der negative Effekt von Einkommensungleichheit auf Wahlbeteiligung bei einem höheren Stimmanteil populistischer Parteien. Angesichts der Tatsache, dass eine solche Regierungsbeteiligung nur auf knapp ein Viertel der beobachteten Wahlen zutrifft, sollte diese Erkenntnis mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden.

 

Fazit: Populismus ist auch keine Lösung

Mit zunehmenden Erfolgen populistischer Parteien ist in den vergangenen Jahren eine Debatte über die negativen, aber auch die positiven Effekte dieser Entwicklung für die Responsivität und Vitalität moderner Demokratien angeregt worden. Unsere Studie hat untersucht, inwiefern Populisten die negativen Auswirkungen wachsender Einkommensungleichheit abmildern können. Auf Basis unserer Analysen stellen wir fest, dass Populisten nicht als Korrektiv für die negativen Auswirkungen wachsender Ungleichheit auf den politischen Prozess wirken.

Unsere Ergebnisse unterstützen neuste Beobachtungen aus der Populismus-Forschung, dass diese Akteure – entgegen ihrer häufigen Selbstdarstellung und populärer medialer Interpretation – eben nichtprimär jene sogenannten Modernisierungsverlierer mobilisieren, die von sozioökonomischen Entwicklungen zurückgelassen wurden. Diese Bürger*innen, welche sich häufig tatsächlich aus dem politischen Prozess zurückgezogen haben und sich ihrer Stimme in Wahlen enthalten, finden somit trotz ihrer wachsenden Zahl nach wie vor wenig politische Vertretung im parlamentarischen System. Dies hat schwerwiegende demokratietheoretische Implikationen. Sie stellen damit weiterhin sowohl eine normative Herausforderung für unser politisches System als auch ein weitgehend unerschlossenes Wähler*innen-Reservoir für Parteien dar.

 

  

Über die Autor*innen:

Hanna Schwander ist Professorin für Politische Soziologie und Sozialpolitik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Dominic Gohla ist Doktorand im Graduiertenkolleg “The Dynamics of Demography, Democratic Processes and Public Policy” (DYNAMICS) der Hertie School of Governance und des Instituts für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Armin Schäfer ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.