Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Wählen in Corona-Zeiten, Teil I: die Briefwahl und ihre Effekte

Wahlen im Superwahljahr 2021, mit drei Kommunalwahlen, sechs Landtagswahlen und einer Bundestagswahl, werden Corona-bedingt, so die allgemeine Erwartung, durch abnehmende Wahlbeteiligung und zunehmende Briefwahl gekennzeichnet sein. Diese Erwartung konnte sich durch die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg auch bestätigt sehen, mit einem Anstieg der Briefwahl von 31 (2016) auf 66 Prozent (Rheinland-Pfalz) beziehungsweise von 21 auf 51,3 Prozent (Baden-Württemberg), während die Wahlbeteiligung in beiden Bundesländern deutlich sank, von identischen 70,4 Prozent 2016 auf nun 64,4 (Rheinland-Pfalz) bzw. 63,8 Prozent (Baden-Württemberg). Diese Doppelbewegung, Abnahme der Wahlbeteiligung und Zunahme der Briefwahl, lässt sich im Großen und Ganzen auch für die Bundestagswahl am 26. September vorhersagen, auch wenn die weitere Dynamik der Pandemie und der Fortschritt der Impfungen bis in den Herbst hinein die Bedingungen, unter denen die Wahl stattfinden wird, natürlich noch verändern.

Geht die Wahlbeteiligung zurück, geht sie überproportional unter denjenigen mit geringerem Einkommen und geringerem Bildungsstatus zurück (siehe dazu das 2015 erschienene Buch von Armin Schäfer). Gleichzeitig werden wir in diesem Beitrag zeigen, dass in der Vergangenheit vor allem einkommensstarke und urbane Schichten von der Briefwahl Gebrauch gemacht haben, woraus sich die Frage ableitet, ob bei der Bundestagswahl im Herbst die unteren Schichten eher zuhause bleiben, während Mittel- und Oberschichten auf Briefwahl umsteigen werden. Sowohl die Entscheidung, wählen zu gehen, als auch die Entscheidung, in welcher Form, per Urnen- oder Briefwahl, wären demnach von einer – gleichgerichteten, sich also wechselseitig verstärkenden – ‚sozialen Selektivität‘ geprägt.

Die soziale Selektivität der Briefwahl

Warum betrifft eine Ausweitung der Briefwahl nicht alle sozialen Schichten gleich? Obwohl es das grundsätzliche Ziel der Briefwahl ist, die politische Beteiligung zu erleichtern, konstituiert sie zugleich eine Hürde. Die Briefwahl muss im Vorhinein, spätestens zwei Tage vorher, beantragt werden. Dies kann schriftlich, persönlich und in manchen Gemeinden online geschehen. Der Briefwahlumschlag muss rechtzeitig abgesandt und korrekt nach einem nicht ganz unkomplizierten System in zwei Umschläge verpackt werden. Sind die Umschläge falsch angeordnet oder nicht verschlossen, entwertet das automatisch die Stimme. Für viele können schon diese eher trivial erscheinenden Faktoren abschreckend wirken, gerade wenn die Motivation wählen zu gehen, sowieso schon gering ist. Studien zeigen, dass die „Leichtigkeit der Wahl (ease of voting)“ einer der zentralen Einflussfaktoren für die individuelle Entscheidung ist, sich an einer Wahl zu beteiligen.

Wie haben sich nun in der Vergangenheit Briefwählerinnen und -wähler von denen unterschieden, die im Wahllokal ihre Stimme abgegeben haben? Um diese Frage zu beantworten, haben wir das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl 2017 mit den Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung (INKAR) zusammenführt. Da letztere vor allem auf Ebene der Gemeindeverbände verfügbar sind, haben wir auch die Wahlergebnisse auf dieser Ebene aggregiert. Im Gegensatz zu bereits veröffentlichten Studien auf der Basis von Umfragedaten untersuchen wir – vereinfacht gesagt – nicht wer per Brief wählt, sondern wo per Brief gewählt wird. Das rückt zum einen erhebliche und erklärungsbedürftige geographische Unterschiede in den Blick. Zum anderen können diese Daten, gerade was die sensible Frage nach der Parteienwahl angeht, oftmals als verlässlicher gelten als Umfragedaten. Sie haben allerdings den Nachteil, dass sie die Möglichkeit eines ökologischen Fehlschlusses nicht ausräumen können: Zusammenhänge auf der Ebene des Einzelnen können ganz anders wirken, als es sich in den aggregierten Daten darstellt. Im Folgenden werden wir nur einzelne Zusammenhänge vorstellen, vollständige Ergebnisse und Replikationsmaterialien finden sich hier.

1. Geographische Unterschiede

Zunächst ist – wie bereits erwähnt – die erhebliche geographische Varianz auffällig. Zwischen den Wahlkreisen gibt es Unterschiede von bis zu 30 Prozentpunkten in der Briefwahlquote (siehe Abbildung 1). Einerseits zeigt sich ein Ost-West-Unterschied, andererseits fallen vor allem die bayerischen Wahlkreise durch ihre hohe Briefwahlquote auf. Wir haben mit Mobilitätsdaten untersucht, ob dem möglicherweise ein anderes Muster der Freizeitgestaltung, insbesondere ein höherer Anteil von Personen, die Wochenendausflüge machen, zugrunde liegt, aber konnten diese Vermutung nicht bestätigen. Ein weiterer möglicher Grund für die erhebliche und systematische geographische Variation könnte in unterschiedlichen Hürden für die Beantragung von Briefwahlunterlagen liegen, etwa dass in bayerischen Gemeinden die Möglichkeit, sich online zur Briefwahl anzumelden, weiter verbreitet ist.

Abbildung 1: Briefwahlquote bei der Bundestagswahl 2017 nach Wahlkreisen. Quelle: Bundeswahlleiter, eigene Berechnung.

2. Stadt / Land und Einkommen

Bei Betrachtung der geographischen Verteilung fällt gleichfalls die Stadt-Land-Differenz auf. Vor allem die großen Metropolen wie Berlin und Hamburg heben sich von den umgebenden Wahlkreisen ab, weisen jedoch auch intern Heterogenität auf: ein deutlich höherer Anteil an Briefwählerinnen und Briefwählern findet sich vor allem in den wohlhabenderen Bezirken im Berliner Südwesten sowie im Hamburger Norden. Das passt zum parteispezifischen Effekt der Briefwahl: Es profitieren Parteien, die vor allem in wohlhabenden Gegenden der Städte mobilisieren (s.u.).

Unsere Modelle zeigen einen grundlegenden Trend, der sich als „je dichter, desto mehr Briefwahlstimmen“ zusammenfassen ließe. So unterscheiden sich die zwei Extremtypen Großstädte und Landgemeinden im Mittel um 4,6 Prozentpunkte in ihrer Briefwahlquote. Nehmen wir als Indikator für Wohlstand das Aufkommen der Einkommenssteuer, zeigt sich ein robuster Zusammenhang mit der Briefwahlquote. So ist der Briefwahlanteil um 1,7 Prozentpunkte höher, wenn sich die gemeindliche Einkommenssteuer um eine Standardabweichung, also einen durchschnittlichen Abstand zum Mittelwert, erhöht. Insgesamt zeigt sich also: je urbaner und wohlhabender ein Gemeindeverband, desto höher die Briefwahlquote.

Insgesamt ist es wichtig hervorzuheben, dass es sich hier um keine Unterschiede in der Wahlentscheidung handelt. Studien zeigen, dass eine verpflichtende Briefwahl die Wahlergebnisse kaum verändern würde, die Wahlbeteiligung allerdings schon. So gehen auch wir nicht davon aus, dass der Unterschied zwischen Brief- und Urnenwahl einer der Parteipräferenz, sondern vielmehr einer der Wahlbeteiligung ist. Wenn die Briefwahl eine Hürde darstellt, dann wirkt sie asymmetrisch, hält also diejenigen eher vom Wählen ab, die ohnehin eine geringere Beteiligungswahrscheinlichkeit haben. Dieser Zusammenhang wird durch die Pandemie verstärkt.

 

CDU/CSU profitieren, AfD verliert

Wie schlagen sich die beschrieben Unterschiede auf die Stimmanteile der Parteien nieder? Wenn wir die Resultate der Bundestagswahl von 2017 zugrunde legen, ist die Antwort klar: Der große Gewinner der oben beschriebenen Entwicklung wäre die CSU, gefolgt von CDU, FDP und Grünen (siehe Abbildung 2). Stark verlieren würde hingegen die AfD. Sie kam 2017 unter Briefwählerinnen und -wählern nicht einmal auf 10 Prozent (unter den Urnenwählerinnen und -wählern jedoch auf fast 14 Prozent). Auch Linke und SPD schneiden etwas schlechter unter ersteren ab.

 

 

 

Abbildung 2: Ergebnisse der Bundestagswahl 2017, aufgeschlüsselt nach Art der Stimmabgabe. Die dunkleren Balken zeigen jeweils die Briefwahlergebnisse. Quelle: Bundeswahlleiter, eigene Berechnung.

In Teil II dieses Beitrages gehen wir der Frage nach, wann Corona tatsächlich zu niedrigerer Wahlbeteiligung führt und was die mittelbaren und unmittelbaren Folgen der Pandemie für die beiden Landtagswahlen im März waren.

 
 

Über die Autoren:

Philip Manow ist Professor für Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Bremen und Sprecher des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik.

Dominik Flügel ist studentischer Mitarbeiter am Lehrbereich Politische Soziologie und Sozialpolitik des Instituts für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.