Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Wählen in Corona-Zeiten, Teil II: Wahlbeteiligung und asymmetrische Demobilisierung

Eine gängige Erwartung ist, dass unter Corona-Bedingungen die Wahlbeteiligung deutlich zurückgeht. Die Daten der Voter Turnout Database (eine graphische Darstellung dieser Daten und Replikationsmaterialien für alle Grafiken im Text finden sich hier) und eine erste internationale Auswertung zu dieser Frage von Santana et.al. aus dem Jahr 2020 weisen deutlich in diese Richtung. Im deutschen Kontext waren die ersten zwei Wahlen des Superwahljahres 2021, die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, ebenfalls von einer stark sinkenden Wahlbeteiligung gekennzeichnet, von identischen 70,4 Prozent in der letzten Wahl im Jahr 2016 auf nun 64,4 (Rheinland-Pfalz) bzw. 63,8 Prozent (Baden-Württemberg). Insofern scheint es plausibel, für die Bundestagswahl am 26. September ebenfalls einen (deutlichen) Rückgang der Wahlbeteiligung zu erwarten, auch wenn Impffortschritt und Inzidenz sich bis dahin noch verändern werden.

Die Präsidentschaftswahlen in den USA im November 2020 (mit einem historischen Beteiligungsrekord, etwa 8 Prozentpunkte höher als 2016) und die niederländischen Parlamentswahlen von Mitte März (mit einer Wahlbeteiligung von 78,7 Prozent) verdeutlichen aber, dass ein signifikanter Rückgang der Wahlbeteiligung auch in Corona-Zeiten keine Zwangsläufigkeit darstellt. Eine – gerade in der und durch die Pandemie möglicherweise verstärkte – politische Polarisierung und Unzufriedenheit kann auch zu erhöhter Wahlbeteiligung führen, falls es ein politisches ‚Ventil‘ für diesen Unmut gibt. Die niedrige Wahlbeteiligung in den ersten Auftaktwahlen zum deutschen Superwahljahr 2021 mag daher auch der Wahrnehmung eines Mangels an ‚wählbaren‘ Alternativen geschuldet gewesen sein. Insofern sollte man bei der Betrachtung der Entscheidung über die Beteiligung an der Wahl immer beides im Auge behalten: einerseits die eher ideologisch-inhaltliche Motivation für die Wahlteilnahme und für die Stimmabgabe für eine spezifische Partei, andererseits auch die teils längerfristigen, teils Corona-bedingt stark verstärkten Trends zur Wahlenthaltung bzw. Briefwahl.

Sinkende Wahlbeteiligung und steigende Unzufriedenheit in der Pandemie

Man sollte beides insbesondere deswegen beachten, weil dann in den Blick gerät, dass die ‚soziale Selektivität‘ der Abnahme der Wahlbeteiligung und Zunahme der Briefwahl womöglich mit einem machtvollen Gegentrend konfrontiert sind. Denn im Wahljahr 2021 könnte sich die stark zunehmende Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung aufgrund des Mangels als wählbar wahrgenommener Alternativen gerade bei denjenigen ‚bürgerlichen‘ Wählerinnen und Wählern in Wahlenthaltung niederschlagen, die sich ‚eigentlich‘ mit hoher Wahrscheinlichkeit an Wahlen beteiligen und gerne zur Briefwahl greifen. Lassen sich hierfür Hinweise finden?

Zunächst ist eindeutig, dass in der Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler das Thema ‚Corona‘ alle anderen Themen mit weitem Abstand dominiert (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Die wichtigsten Probleme in Deutschland. Quelle: FG Wahlen/Politbarometer, eigene Berechnungen.

Dabei sind die anfänglich sehr hohen Zustimmungswerte für das Krisenmanagement der Bundesregierung seit Februar 2021 dramatisch abgestürzt. Der Anteil derjenigen, die mit dem Krisenmanagement von Bund und Ländern weniger oder gar nicht zufrieden sind, stieg von etwa 40 Prozent im vergangenen Dezember auf etwa 80 Prozent im April (infratest dimap). Auch die allgemeine Zufriedenheit mit der Regierung sank in diesem Zeitraum dramatisch. Das ließe erwarten, dass diejenige Partei, die insbesondere von erhöhten Briefwahlanteilen profitieren könnte und in der Vergangenheit auch getan hat, die CDU/CSU, dies aufgrund der stark zunehmenden politischen Unzufriedenheit mit der Pandemiebekämpfung durch die Bundesregierung momentan nicht tut.

CDU und AfD bei den Landtagswahlen: zwei Arten, ans Lager der Nicht-Wählerinnen und Nichtwähler zu verlieren

Betrachten wir die Änderung der Stimmenverhältnisse auf Wahlkreisebene bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, insbesondere den Anteil derjenigen, die nicht gewählt haben, sehen wir, dass der Rückgang nicht (nur) einen ganz generellen Trend in Corona-Zeiten widerspiegelt, sondern sich spezifisch nach Parteien und momentaner Zustimmung unterscheidet. In Bezug auf die CDU sind zwei Entwicklungen bemerkenswert. Zunächst wird deutlich, dass sie die in den letzten Wahlen verlorenen Wählerinnen und Wähler nicht zurückgewinnen konnte. Wer in Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz vor allem aufgrund der Migrationspolitik der Bundesregierung im Jahr 2016 zur AfD gewechselt war, ist im Jahr 2021 nicht wieder zur Union oder SPD zurückgekehrt, sondern hat sich eher der Wahl enthalten. Das wird sehr deutlich, wenn wir auf der Wahlkreisebene die Wahlkreise nach Stimmenstärke für die AfD 2016 mit dem Anteil der Nicht-Wählerinnen und -Wähler 2021 vergleichen: Dort wo der Stimmenanteil der AfD 2016 besonders hoch war, stieg die Stimmenthaltung 2021 besonders an (vgl. Abbildung 2). Die AfD verlor zwar in beiden Ländern über 4 Prozentpunkte, aber diese Wählerinnen und Wähler sind ganz überwiegend nicht zu den etablierten Parteien zurückgekehrt.

Abbildung 2: Vergleich der Wahlbeteiligungsdifferenz 2021 zu 2016 und des AfD-Ergebnisses nach Wahlkreisen. Quellen: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, bzw. Landeswahlleiter Rheinland-Pfalz (unten); eigene Berechnungen.

Aber die CDU gewinnt nicht nur verlorene Wählerinnen und Wähler nicht zurück, sondern hat aufgrund der hohen Unzufriedenheit mit dem Corona-Management der Bundesregierung auch große Probleme, das eigene (geschrumpfte) Klientel zu mobilisieren. Das zeigt sich, wenn wir die 2016-Stimmenanteile sowohl der AfD als auch der CDU mit ihren Stimmanteilen 2021 vergleichen (siehe Abbildung 3). Für die AfD zeigt sich der oben skizzierte Zusammenhang: sie verliert dort viel, wo sie zuvor viel gewonnen hatte, der Abstand zwischen 2016 und 2021 ‚öffnet‘ sich daher umso stärker, je höher der Stimmenanteil vor fünf Jahren gewesen ist. Die CDU verliert hingegen ‚durch die Bank‘ auf der Basis ihres bereits besonders schlechten Wahlergebnisses von 2016.

Abbildung 3: Vergleich der Wahlergebnisse von CDU und AfD 2016 und 2021. Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, bzw. Landeswahlleiter Rheinland-Pfalz, eigene Berechnungen.

Sollte die CDU also eigentlich von sinkender Wahlbeteiligung und steigender Briefwahlquote profitieren (weil Wählerinnen und Wähler anderer Parteien zuhause bleiben), demobilisiert sie in ihrer jetzigen Verfasstheit vor allem ihr eigenes, früheres sowie gegenwärtiges Milieu – Profiteur ist der politische Gegner, nicht zuletzt sind es die Grünen. Sie haben in Baden-Württemberg 2021 fast 37.000 Stimmen weniger erhalten als 2016 (ein Rückgang von etwa 2,3 Prozent), waren aber deswegen der deutliche Wahlgewinner, weil die CDU zugleich knapp 20 Prozent ihrer bereits 2016 deutlich geschrumpften Zahl an Wählerinnen und Wählern verloren hat.

In Teil I des Blog-Beitrages haben wir uns angeschaut, wo in der Vergangenheit besonders häufig per Brief gewählt wurde und was das für – sozial selektive – Konsequenzen bei der kommenden Bundestagswahl haben kann.

 

Über die Autoren:

Philip Manow ist Professor für Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Bremen und Sprecher des SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik.

Dominik Flügel ist studentischer Mitarbeiter am Lehrbereich Politische Soziologie und Sozialpolitik des Instituts für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.