Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Können die Unionsparteien von einer Annäherung an die AfD profitieren? Die Antwort der Politikwissenschaft ist unklar

Autor: Nico Sonntag

 

Marc Debus untersucht in seinem Blogbeitrag den Zusammenhang zwischen Positionsverschiebungen von Parteiprogrammen und dem Wahlerfolg der AfD. Basierend auf einer Analyse von 37 Land- und Bundestagswahlen zeigt er, dass eine Annäherung der Unionsparteien (CDU/CSU) an die Alternative für Deutschland (AfD) in Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mit Stimmverlusten für erstere einhergeht. Aus diesem Befund sowie aus weiteren der Forschungsliteratur entnommenen Hinweisen schließt er, dass eine Annäherung eher nicht zur Rückgewinnung von AfD-Wähler*innen beitragen wird. Im Folgenden möchte ich diese Schlussfolgerung hinterfragen.

Annäherung und Wähleranteil

Die oben kurz dargestellte Analyse hat ein grundlegendes (Endogenitäts-)Problem, das im Beitrag von Marc Debus nicht erwähnt wird. „Endogenität“ heißt in diesem Falle: Die tatsächliche erfolgte Annäherung der Union an die AfD geschieht nicht unabhängig vom (erwarteten) Erfolg der AfD. Wenn die AfD bei einer Wahl durch ihre Positionierung größere Erfolgschancen hat und der Union Wähler*innen streitig macht, ist der Druck auf die Union, ihre Position an die AfD anzunähern, groß. Wenn die AfD mit ihrer Ausrichtung der Union wenig Konkurrenz macht, ist der Druck geringer. Es ist also durchaus zu erwarten, dass bei Wahlkämpfen, bei denen die AfD höhere Stimmenanteile erzielt, die Union sich ähnlicher positionieren wird. Dieser Umstand erschwert eine Antwort auf die Frage, wie der Stimmenanteil der Union ausgefallen wäre, wenn sie sich weniger stark angenähert hätte – womöglich handelt es sich trotz Stimmverlusten um erfolgreiche Schadensbegrenzung.

Derlei Probleme sind in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften allgegenwärtig. Aus demselben Grund ist es schwierig, die Wirkung eines Konjunkturprogrammes auf das Wirtschaftswachstum oder die Arbeitslosenquote zu schätzen. Die Ausgaben eines Konjunkturprogrammes werden bei einer drastischen Rezession stärker ausgefallen als bei einer milden. Aus diesem Grund kann sich leicht eine negative Korrelation zwischen Ausgaben und Wachstum zeigen, obwohl das Programm wirksam war – die Rezession wäre ohne Maßnahme noch größer ausgefallen.

Eine von Marc Debus als zusätzliche Evidenz zitierte Studie von Krause und Kollegen nutzt Daten zu Wahlen in zwölf europäischen Ländern zwischen 1976 und 2017, um den Erfolg einer Anpassung an „radikal rechte“ Parteien (radical right parties) zu prüfen. Die Autoren finden ebenfalls keine Hinweise auf den Erfolg der Anpassungsstrategie. Das Untersuchungsdesign unterliegt indessen denselben Beschränkungen, die oben angesprochen wurden. Die Autoren legen das offen und verweisen in diesem Zusammenhang auf komplementäre experimentelle Studien, die das Problem der Endogenität lösen, dafür eine geringere Verallgemeinerbarkeit aufweisen. Da jedoch beide Arten von Studien –  experimentelle und solche auf Basis von Beobachtungsdaten – zu ähnlichen Ergebnissen kommen, spreche die Gesamtheit der Befunde gegen den Erfolg programmatischer Annäherungen.

Experimentelle Hinweise

Unter den zwei genannten experimentellen Untersuchungen bezieht sich nur eine auf Deutschland (Chou und Kolleg*innen). Den Befragten wurden kurze Beschreibungen fiktiver Kandidat*innen vorgelegt, deren Merkmale und politische Positionen zufällig variiert wurden. Die Befragten sollten danach ihre bevorzugten Kandidat*innen auswählen.

Die Autoren schließen (unter anderem) aus ihrer Studie, dass z.B. die Union nicht von einer Annäherung an die AfD profitieren würde: Sie könnte durch eine striktere Flüchtlingspolitik zwar AfD-Wähler zurückgewinnen, diese Gewinne würden jedoch vom Stimmverlust unter ihren bisherigen Wähler*innen übertroffen.

Um die Übertragbarkeit auf die aktuelle Situation einschätzen zu können, sollten die Details der Studie ernst genommen werden: Die stimmenmaximierende Referenzposition der Union, die den Befragten vorgelegt wurde, besteht in einer Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme auf 200.000 Personen pro Jahr. Das entspricht der „Obergrenze“, wie sie vom ehemaligen Innenminister Seehofer vertreten wurde und wie sie in aufgeweichter Form als „Richtwert“ Teil des im Oktober 2017 beschlossenen Kompromisses wurde. In den Jahren 2018 bis 2021 überschritt die Anzahl der Asylanträge jeweils nicht die jährliche Schwelle von 200.000. Das ist erst seit 2022 wieder der Fall und seither ist eine Obergrenze zunehmend wieder in der Diskussion.

 

 

Indessen stellt sich die Frage, ob die Union in der Realität bzw. in der Wahrnehmung der Wähler*innen diese (stimmenmaximierende) Position vertritt. Es gibt z.B. keine (prominenten) Forderungen aus der Union, die Flüchtlingsobergrenze auch auf ukrainische Kriegsflüchtlinge anzuwenden, die nicht in die Asylstatistik einfließen, sondern hier wird eine letztlich unbegrenzte Aufnahme akzeptiert. Während es bei den meisten Parteien Konsens ist, ukrainische Flüchtlinge von anderen Flüchtlingen – insbesondere solchen aus dem Nahen Osten und Nordafrika – zu trennen, trifft das auf die AfD nicht eindeutig zu. Es gibt immer wieder Forderungen, den Rechtskreiswechsel zurückzunehmen und Ukrainer*innen wie andere Asylbewerber*innen zu behandeln sowie darüber nachzudenken, wie „mit dem absehbaren Ende des Krieges […] die über 1,1 Millionen Ukrainer in Deutschland schnellstmöglich wieder in ihre Heimat zurückkehren können“. Der derzeitige Höhenflug der AfD in den Umfragen begann Mitte 2022 und somit nach der ersten Fluchtwelle aus der Ukraine.

Hier zeigt sich das Problem der Übertragung solcher Ergebnisse auf die Realität, das sich gar nicht so sehr auf die womöglich selektive (nicht-repräsentative) Stichprobenziehung bezieht, sondern auf inhaltliche Aspekte: z.B. ob die unterstellte Union-Position mit dem übereinstimmt, was die Wähler*innen als Union-Position wahrnehmen. Anders gesagt: Muss die real existierende Union zur Maximierung ihrer Stimmen in der heutigen Situation auf einer wörtlich verstandenen Obergrenze von 200000 Flüchtlingen beharren, die Ukrainer*innen miteinschlösse? Oder handelt es sich ohnehin um einen anderen Kontext, der mit der damals verwendeten Frageformulierung nicht erfasst werden kann?

Man muss auch darauf hinweisen, dass die Befunde von Chou et al. im Detail andere Schlussfolgerungen nahelegen als Krause et al.: Während Krause et al. finden, dass Parteien durch eine Anpassung ihrer Position in der Migrationspolitik mehr Wähler*innen an radikal rechte Parteien verlieren als sie hinzugewinnen, weisen die Befunde bei Chou et al. darauf hin, dass zwar Wähler*innen von der AfD zurückgewonnen werden können, die Forderung nach strikteren Aufnahmebeschränkungen moderatere Wähler*innen allerdings abschreckt. Eine theoretische Integration, aus der Belastbares über den Erfolg von programmatischen Anpassungen geschlossen werden könnte, müsste derlei Diskrepanzen zunächst auflösen.

Andere Indizien

Es finden sich noch weitere Indizien, die daran zweifeln lassen, dass eine Annäherung an die AfD in allen Politikfeldern, Migrationspolitik eingeschlossen, eine vergebliche Strategie darstellt. Pilet und Kollegen (2023) haben unlängst überprüft, ob Politiker*innen in Europa die Positionen der Wähler*innen konservativer einschätzen, als sie in Wirklichkeit sind. Dafür finden sich Belege. Für Deutschland finden sich diese Belge jedoch nur bei der Wirtschafts- und Rentenpolitik. Beim Thema Zuwanderung schätzten Politiker*innen linker und rechter Parteien die öffentliche Meinung hingegen migrationsfreundlicher ein, als sie tatsächlich ist: „[…] on immigration […] in Germany […] misperception of public opinion has a liberal bias—underestimating the public’s conservatism.“

In Anbetracht der Zentralität der Migrationspolitik bei der Positionierung der AfD liegt die These nahe, dass gerade diese systematische Fehleinschätzung ein Erklärungsfaktor des Erfolgs der AfD ist und Spielraum für eine erfolgreiche Anpassungsstrategie besteht.

Schluss

Der Erfolg der AfD ist eine für unsere Demokratie bedrohliche Entwicklung. Entsprechend wünschenswert ist es, wenn die Politikwissenschaft durch Forschungsergebnisse zu einer Erklärung dieses Sachverhaltes beitragen kann. Da ihre Ergebnisse auf den politischen Diskurs und Partei-Strategien zurückwirken können, obliegt ihr allerdings auch eine große Sorgfaltspflicht. Bei einem wichtigen Thema wie dem Aufstieg der Rechtspopulismus sollte mit besonderer wissenschaftlicher Rigorosität vorgegangen werden.

Ziel dieses Blogbeitrags ist es nicht, die Befunde der jeweils zitierten Studien oder des Beitrags von Marc Debus infrage zu stellen. Stattdessen geht es um Interpretation der Gesamtheit der Befunde und die Gewissheit, mit welcher der Erfolg einer Anpassungsstrategie verneint wird. In meinen Augen erlaubt die derzeitige Daten- und Studienlage nicht einmal eine vorläufige Antwort auf diese Frage. Entsprechend zurückhaltend sollte die Interpretation ausfallen.

 

 

 

Über den Autor: 

Dr. Nico Sonntag ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Soziologie und quantitative Methoden an der Johannes Gutenberg Universität Mainz.