Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Bürgerräte als Praxis und Forschungsobjekt

Autor*innen: Detlef Sack und Nora Freier

 

Bürgerräte sind en vogue

Mit großem medialen Echo haben sich am letzten Wochenende des September 2023 160 geloste Bürger*innen in Berlin getroffen, um über das Thema Ernährung zu beraten. Der Bürgerrat war vom Deutschen Bundestag eingesetzt worden. Er steht damit in einer Linie mit den auf nationalstaatlicher Ebene durchgeführten Bürgerräten in Irland (z.B. zu den Themen Geschlechtergerechtigkeit, Abtreibungen) und Frankreich (z.B. Klima). Knapp eine Woche nachdem in Berlin die 160 zufällig ausgelosten Bürger*innen zusammengekommen sind, trafen sich in Kopenhagen ca. 160 Expert*innen auf der Democracy R&D Annual Conference 2023, die sich seit Jahren, teils seit Jahrzehnten mit Citizens’ Assemblies und deliberativen, Dialog-orientierten Formaten befassen, sei es als Organisator*innen, Moderator*innen oder Forscher*innen, häufig auch in der Vermischung dieser Rollen. Begrüßt wurden zu Beginn aber auch die Vertreter*innen von Stiftungen, die zivilgesellschaftliche Aktivitäten finanziell unterstützen.

Forschungsperspektiven auf Bürgerräte

Ganz offensichtlich sind Bürgerräte eine Demokratieinnovation, die angekommen ist. Das ist ein Anlass über Bedeutung, Design und Effekte dieser Demokratieinnovation nachzudenken und sich zugleich darauf zu besinnen, wie über Bürgerräte und deliberative Formate nachgedacht wird. Das ist hier unser Interesse. Ausgehend von den Erfahrungen bei der Herausgabe des DMS-Themenschwerpunkts „Demokratieinnovationen, Repräsentationen und Politikwandel“ stellen wir eine Schablone vor, in der wir zwei idealtypische Zugänge der Erforschung deliberativer Formate unterscheiden, nämlich eine „partizipationsorientierte Deliberationsforschung“ (pD) und eine „prozessorientierte Public-Policy-Forschung“ (pPF). Wir behaupten nicht, dass diese Unterscheidung neu ist. Entsprechende Beiträge lassen sich seit den 1970er Jahren im Kontext der OECD-Demokratien finden. Wir sagen aber, dass es sich lohnt, sich an diese Unterscheidung im aktuellen Forschungszyklus zu erinnern, um die Innovationen wie Friktionen, die in der Begegnung der Perspektiven offenbar werden, zu sortieren und zu reflektieren. Zu entscheiden gibt es dabei nichts. Beide Perspektiven können – wenn sie intersubjektiv nachvollziehbar arbeiten – zu einem neuen Wissensstand über deliberative Formate beitragen. Insofern ist die nachfolgende Schablone ein Reflexionsangebot an Forschende und keine Aufforderung, sich dichotomisch für die eine oder andere Seite zu entscheiden.

Partizipationsorientierte Deliberationsforschung

Prozessorientierte Public Policy-Forschung

Traditionell eher Input-interessiert

Traditionell eher Output-interessiert

Normativ-advokatorisch

Empirisch-analytisch

Argumentative und partizipative Involvierung von Bürger*innen und Wissenschaftler*innen (Citizen Science)

Distanziert beobachtend. Trennung von Wissenschaft und Gesellschaft

Interessiert am gesellschaftlichen Problem und „guten“ Ergebnis

Interessiert am theorietestenden bzw. -generierenden Fall

„Better serve democracy“-Design

Wissenschaftsimmanenter Erkenntnisgewinn, Weiterentwicklung von Theorie und Methoden

Programmforschung, Fundraising

Grundlagenforschung

Tabelle 1: Schablone unterschiedlicher Forschungsperspektiven. Quelle: Eigene Zusammenstellung.

Partizipationsorientierte Deliberationsforschung gegen und mit prozessorientierter Public-Policy-Forschung

 

Während Beiträge einer „partizipationsorientierten Deliberationsforschung“ (pD) sich demokratietheoretisch in den Bereich der input-orientierten Forschung einsortieren lassen (Wer beteiligt sich wie und unter welchen Bedingungen?), befasst sich eine „prozessorientierte Public-Policy-Forschung“ (pPF) mit Demokratieinnovationen, weil sie – neben anderen institutionellen und akteursorientierten Faktoren – Policy-Effekte mit sich bringen können. 

Vereinfacht: Erkenntnisleitend ist nicht, wie die Selbstwirksamkeit sozialer Milieus mit einer beteiligungsorientierten Energiewende gestärkt wird, sondern wie viele Windparks implementiert werden und ob sich damit der Anteil erneuerbarer Energien am Energiemix erhöht. Deliberation ist im ersten Fall eine wünschenswerte Praxis, im zweiten ein interessantes Forschungsobjekt.

Die Ermöglichung von Mitsprache und die Stärkung von Bürger*innen ist hingegen im Fokus der pD. Diese nimmt eine normativ-advokatorische Grundhaltung ein, insbesondere pro Bürger*innen, für die ein Repräsentations- bzw. Beteiligungsdefizit diagnostiziert wird. Wesentliches Bewertungskriterium ist die Förderung der Beteiligung dieser Bürger*innen. Partizipationsorientierte Deliberationsforschung weist zudem ein spezifisches Verständnis der Wissensproduktion auf. Im Fokus steht die kollaborative Interaktion von Bürger*innen und Wissenschaftler*innen. Citizen Science ist dadurch definiert, dass Bürger*innen ein Expertenstatus zugeschrieben wird, sie sollen unterstützt und auf Augenhöhe in die Erhebung von Daten, deren Auswertung und deren Bewertung einbezogen werden. Alltagspragmatische und gebrauchswertorientierte Bewertungen durch Bürger*innen im Sinne der Citizen Science nehmen etwa in der umweltorientieren Transformationsforschung oder in jenen Feldern der Sozialpolitik einen großen Platz ein, die durch kritische Forschung zu sozialer Arbeit geprägt sind.

Insofern ist pD nicht allein input-interessiert, sondern orientiert sich in deliberativer Tradition an einer wissensbasierten Lösung gesellschaftlich und politisch definierter Problemlagen. Maßgeblich sind dabei sowohl die eigenen normativen Beteiligungs- und Gerechtigkeitserwartungen wie diejenigen der sozialen Gruppe, die als teilhabeberechtigt und unterstützenswert adressiert wird. Damit sind auch die Maßstäbe für das Design von Verfahren gesetzt, das demokratiefördernd, involvierend und deliberativ wirken soll („Better serve democracy“-Design).

In der Tendenz ist die politische Ökonomie der pD, also ihre Ressourcenbasis, politisch. Das liest sich tautologisch, ist es aber nicht. Forschung dieser Provenienz wird eher durch zivilgesellschaftliche Stiftungen wie auch aus Spenden (Fundraising) finanziert. Ihre Mittel kommen aus der Programmforschung von Ministerien, Parlamenten und internationalen wie supranationalen Organisationen, die ihrerseits einen advokatorischen Politikstil vertreten. Mit diesen Finanzflüssen werden Nähe und Distanz zu den Auftraggeber*innen der Forschung zum Dauerthema.

Idealtypisch basiert pPF dementgegen polit-ökonomisch auf den Ressourcen der Universitäten, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem European Research Council. Damit ist die Erwartung verbunden, zu einem in diesem System relevanten Forschungsstrang beizutragen. Das dominante Verständnis der Wissensproduktion setzt an der Beobachtung von Politik und Gesellschaft an, wie an der Identifizierung methodologisch interessanter, theorietestender und -generierender Fälle. In diesem Sinne ist das Scheitern von Demokratieinnovation ein „abweichender“, methodisch interessanter Fall, dem besondere Aufmerksamkeit gilt, der aber nicht zwingend in normative Aufregung mündet.

Fazit: Schablone als Reflexionsangebot 

 

Die vorgenommene Differenzierung in zwei Forschungsstränge und die idealtypische Schablone markieren keine Ausschließlichkeit. Sie sind ein Reflexionsangebot, um die mitunter schwierige Rollenpositionierung, das Ringen um Standards guter Forschung und die (nicht nur) intellektuellen Konkurrenzen im Forschungsfeld der Demokratieinnovationen zu reflektieren. Praktisch relevant wird die Unterscheidung mindestens in zwei Bereichen: Welche Methoden sind angemessen, um Demokratieinnovationen und deren Wirksamkeit zu messen? Von welcher Wirksamkeit ist dabei die Rede? Und: Nach welchen Kriterien und Standards begutachten wir Publikationen zu Demokratieinnovationen?

 

 

 

 

Über die Autor*innen:

Detlef Sack ist Professor für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten „Demokratietheorie und Regierungssystemforschung“ an der Bergischen Universität Wuppertal und Leiter des dortigen Instituts für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF).

Nora Freier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) der Bergischen Universität Wuppertal.

Über die Reihe:

Diese Reihe geht auf den Themenschwerpunkt „Demokratieinnovationen, Repräsentation und Politikwandel“ in dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management (1-2023), herausgegeben von Nora Freier, Volker Mittendorf und Detlef Sack, zurück. Den vielfältigen Krisentendenzen demokratischer Regime begegnen unterschiedliche Demokratieinnovationen. Diese weisen direktdemokratische oder deliberative Formen auf, etwa Volksentscheide oder Bürgerräte. Nach einer Phase, die sich besonders der Input-Seite der Demokratieinnovationen gewidmet hat, werden in der Debatte deren Effekte zunehmend in den Mittelpunkt gerückt. Damit werden Partizipationsforschung und Policy-Analyse neu kombiniert. Dies ist nicht spannungsfrei!

Weitere Beiträge in der Reihe: