Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

75 Jahre Vereinte Nationen, 170 Jahre internationale Kooperation in Gesundheitsfragen: Welche Zukunft für globale Gesundheitspolitik?

Die COVID-19 Pandemie wird gerne als eine Rückkehr zum Gesundheits-Nationalismus, als der Anfang vom Ende der Globalisierung und als symptomatisch für die Handlungsunfähigkeit internationaler Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen (UN), charakterisiert. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die stark nach innen gewandte öffentliche Debatte und Medienberichterstattung über die Pandemie. So standen die Vereinten Nationen im Jahr 2020 vor allem im Kontext des Austritts der USA aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Debatte über das Versagen der WHO als Frühwarnsystem bei Gesundheitsnotständen im Rampenlicht. Die Gleichzeitigkeit der Pandemie und des 75-jährigen Jubiläums der Vereinten Nationen wirft daher die Frage auf, welchen Einfluss die Vereinten Nationen gegenwärtig und auch in Zukunft auf globale Gesundheitspolitik haben werden. In diesem Beitrag werde ich kurz darstellen, wie sich die institutionelle (Un-)Ordnung globaler Gesundheitspolitik über Zeit verändert hat und welche Herausforderungen sich für insbesondere für die WHO in einer komplexen Landschaft traditioneller und hybrider, öffentlicher und privater Akteure stellen. Aufbauend darauf entwerfe ich abschließend drei Szenarien für die Zukunft der globalen Gesundheitspolitik.

Gesundheit ist ein Bereich in dem Staaten schon weit vor Beginn des 20. Jahrhunderts zusammengearbeitet haben. Angefangen hat die „Gesundheitsdiplomatie“ mit internationalen Vereinbarungen zur Eindämmung von Infektionskrankheiten, zum ersten Mal bei der Cholera. Kern waren insbesondere eine gründliche und transparente Informationspolitik der betroffenen Länder und die Vereinbarung von Maßnahmen, die im Falle drohender Epidemien ergriffen werden sollten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit der Gründung der Vereinten Nationen steht die WHO, die 1948 als Sonderorganisation der Vereinten Nationen  gegründet wurde, im Zentrum der aktuellen globalen Gesundheitspolitik. Lange Zeit war die WHO unangefochten anerkannt als Sonne im Zentrum des institutionellen Planetensystems, das sich globale Gesundheitspolitik nennt. Um sie herum kreisten größere und kleinere Planeten wie beispielsweise UNICEF, der Bevölkerungsfonds UNFPA, die Weltbank oder das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP, die sich vorrangig mit Gesundheitsproblemen im globalen Süden, mit Kinder- und Müttersterblichkeit, Impfkampagnen oder dem Zugang zu Gesundheitsversorgung befassen.

Die WHO im Geflecht globaler Gesundheitspolitik

Die globale Gesundheitspolitik der Gegenwart spielt sich hingegen in einer dicht besiedelten Landschaft unterschiedlicher größerer und kleinerer, zwischenstaatlicher, öffentlich-privater und rein privater Institutionen ab. Umstritten ist dabei, ob diese vielen Planeten tatsächlich Teil eines geordneten Sonnensystems sind und damit auch, ob die WHO weiterhin die Sonne dieses Sonnensystems darstellt; oder ob nicht vielmehr die globale Gesundheitspolitik als fragmentiertes, polyzentrisches, ja vielleicht sogar chaotisches Durcheinander von Akteur*innen und Institutionen charakterisiert werden muss. In unserer WZB-Forschungsgruppe Governance for Global Health untersuchen wir das Beziehungsgeflecht zwischen den acht größten globalen Gesundheits-Organisationen, darunter auch neuere, öffentlich-private Institutionen wie der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose oder GAVI, die Impfallianz. Wir gehen der Frage nach, wie und warum sich die Beziehungen insbesondere zwischen diesen Organisationen zwischen 1970 und 2017 intensiviert und verändert haben. Dabei zeigt sich immer wieder die herausragende Position der WHO. Zugleich wird aber deutlich, dass die Organisationen in manchen Bereichen gerne und intensiv zusammenarbeiten, in anderen wesentlich zögerlicher aufeinander zu gehen oder mit einander um Einfluss, Ressourcen und Reputation konkurrieren.

Abbildung 1: Kooperation internationaler Organisationen in der globalen Gesundheitspolitik im operativen Bereich 1970-2013 (Quelle: Holzscheiter, A. /Bahr. T. /Pantzerhielm, L. /Grandjean, M. (2020), IO Positioning and Shifting Power Constellations in Global Health Governance, unveröffentlichtes Manuskript)

Die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und unternehmerischen Akteuren in der globalen Gesundheitspolitik wurde durch einige Schlüsselmomente entscheidend geprägt: insbesondere die HIV-Epidemie der späten 1980er Jahre, die zusammenfiel mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und mit dem Triumph liberaler Werte und sozialer Bewegungen im Menschenrechtsbereich. Die HIV-Epidemie hat den Stellenwert globaler Gesundheitspolitik auf der außenpolitischen Agenda erhöht und damit verbunden, auch zu einem steilen Anstieg von Ressourcen und Akteuren beigetragen. Auch die Millenniumsentwicklungsziele sowie die stetige Öffnung von UN-Organisationen für private for-profit und not-for-profit Akteure haben die Rolle und Arbeit der Vereinten Nationen im Bereich der Globalen Gesundheit maßgeblich geprägt. Mittlerweile finden wir für jedes noch so kleine oder uns wenig vertraute Gesundheitsproblem – z.B. den Hakenwurm, ein Darmparasit – eine, wenn nicht mehrere, globale Initiativen und Partnerschaften, in denen UN-Organisationen (allen voran die WHO) mit Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Betroffenenverbänden und großen privaten Stiftungen zusammenarbeiten.

In erster Linie können wir also einen Zuwachs an Bedeutung, Tätigkeitsfeldern und Ressourcen für die globale Gesundheitspolitik beobachten. Das mittlerweile beeindruckenden Portfolio an Aufgaben und Zielen lässt auf eine stetig steigende Relevanz der Vereinten Nationen für die Sicherstellung der Gesundheit jedes einzelnen und aller „Völker“, wie es in der WHO-Verfassung von 1946 heißt, schließen. Gleichzeitig erzeugt die Ko-Existenz von derart vielen unterschiedlichen Akteuren mit divergierenden Interessen und Motiven natürlich auch Reibungsfläche und Konflikt: um Mandate, Legitimität und Macht im dichten Geflecht der Institutionen. Einer der herausragenden Effekte einer derart zerfaserten Landschaft an Organisationen, Programmen und Partnerschaften, ist die Zunahme an Normkollisionen in der internationalen Politik. Diesen Zusammenprall unterschiedlicher Wertesysteme und damit verbundener Verhaltenserwartungen untersuchen wir in einem zweiten Forschungsprojekt COLLISIONS. Auch in der aktuellen Corona-Pandemie werden die UN vorrangig als ein Schauplatz für Normkollisionen wahrgenommen.

Auch weil sie das Herzstück der globalen Gesundheitspolitik ist, befindet sich die WHO im Auge des Sturms. Sie versucht angesichts eines ausufernden Gesundheits-Nationalismus an globale Verantwortung zu erinnern, globale Lösungen gerade in der Frage von Verteilungskonflikten zu schaffen und die Perspektiven von Ländern und Gesellschaften des globalen Südens, die ganz anders von der Pandemie getroffen werden als Länder des globalen Nordens, lebendig zu halten. Gerade der Umstand, dass die WHO momentan im Rampenlicht steht, erlaubt es anderen Institutionen, im Schatten der WHO folgenschwere Auseinandersetzungen auszutragen. So wird die Welthandelsorganisation WTO zum Schauplatz eines Werte- und Zielkonflikts zwischen dem Schutz geistigen Eigentums auch von Patenten auf lebenswichtige Medikamente einerseits und den Schutz öffentlicher Gesundheit andererseits, was einen fairen und gleichen globalen Zugangs zu Diagnostik, Therapie und vor allem möglichen Impfstoffen für COVID-19 betrifft.

Szenarien globaler Gesundheitspolitik

Welche Szenarien für die Zukunft der Vereinten Nationen im Feld der globalen Gesundheitspolitik erscheinen nun plausibel? Diese Zukunft hängt vor allem davon ab, welche Antworten die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedsstaaten finden, um die zentrale Stellung traditioneller multilateraler Organisationen wie der WHO innerhalb einer pluralistischen Landschaft staatlicher, öffentlich-privater und nichtstaatlicher Akteure zu behaupten. Sollte es den Vereinten Nationen gelingen, mithilfe von Multilateralismus-freundlichen Staaten wie beispielsweise der „Allianz für den Multilateralismus“, für die sich Deutschland und Frankreich stark machen, wieder mehr Gestaltungsmacht zu erlangen, müsste sich dies vor allem in einem stärkeren Mandat für die Koordination der UN-Organisationen in unterschiedlichen Politikfeldern, einschließlich Gesundheit, widerspiegeln. UN-Generalsekretär António Guterres hat hier schon einen wichtigen Schritt getan, als er die Koordinations-Kompetenzen auf die Ebene des UN-Generalsekretärs hochverlagert hat. Andernfalls, so steht so befürchten, kommt es zur Abwertung traditioneller multilateraler Institutionen wie der UN. Wir sehen bereits jetzt, dass sich wesentliche Entscheidungen über Finanzierung, Agenda und Strategien in der globalen Gesundheitspolitik von den Vereinten Nationen auf Foren wie G7, G20 oder öffentlich-private Initiativen wie die Global Financing Facility verlagern. Es kommt also zu einem Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen und zu einer Verschärfung der „Club-Dynamik“ zwischen einzelnen Ländern und finanzstarken privaten Akteuren wie Unternehmensverbänden und private Stiftungen. Langfristig könnte sich dieser Trend gar auswachsen zu einem polyzentrischen institutionellen System, in dem unterschiedliche Weltordnungen nebeneinander bestehen, und in dem die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen und Programme nur noch einen Teil der Welt repräsentieren.

 

Über die Autorin:

Anna Holzscheiter ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik an der Technischen Universität Dresden und leitet parallel die Forschungsgruppe Governance for Global Health am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Zuletzt hat sie zu den Themen Trumps Stöckchen, über die die WHO springen soll (IPG 4/2020) und Power in Relations of International Organizations: The Productive Effects of Good Governance Norms in Global Health (Review of International Studies 3/2020) publiziert.

Dieser Blog-Beitrag geht auf die Diskussionsrunde "75 Jahre Charta der Vereinten Nationen" im Rahmen der DVPW-Veranstaltungsreihe "Politikwissenschaft im Gespräch" zurück. Anlässlich des Gründungsjubiläums der Vereinten Nationen am 24. Oktober 2020 haben Stefan Aykut, Anna Holzscheiter und Elvira Rosert Bilanz und Perspektiven internationaler Zusammenarbeit in den Bereichen Klima, Gesundheit und Sicherheit diskutiert.