Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Scheiterte der Einsatz in Afghanistan erst durch seine Beendigung?

Autor: Thorsten Gromes

 

Kontroversen in der Ursachenforschung

Das Ende des Einsatzes in Afghanistan und die erneute Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 führten zu zahlreichen Versuchen, das Geschehene aufzuarbeiten. Dass der internationale Einsatz fehlschlug, ist in akademischen Beiträgen weithin unbestritten. Allerdings gibt es Kontroversen darüber, wie sich dieser Befund erklären lässt. Eine prominente Kontroverse diskutiert, wieweit es die politische Neuordnung Afghanistans belastete, dass jene Warlords viel Macht erhielten, die sich zwar mit der US-geführten Koalition gegen die Taliban verbündeten, doch Jahre zuvor, nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen, einen weiteren Krieg begonnen hatten. Hier stellt sich die Frage, ob ohne dieses Bündnis der internationale Einsatz mit einem noch breiteren Aufstand konfrontiert worden wäre. Eine verwandte Kontroverse thematisiert, ob die im Dezember 2001 bei Bonn eingeleitete Neuordnung Afghanistans die Taliban hätte einbeziehen sollen. Dabei unterscheiden sich die Einschätzungen darin, ob große Teile der Taliban zu einer Machtteilung überhaupt bereit gewesen wären und wie gut ein gemeinsames Regieren der Taliban mit ihren früheren Feinden funktioniert hätte. In einem anderen Streit meint die eine Seite, bereits das Vorhaben der Demokratisierung sei aussichtslos und sogar gefährlich gewesen, und das aufgrund extrem ungünstiger Ausgangsbedingungen und des zu erwartenden Widerstands gegen eine solche politische Umwälzung. Die andere Seite hingegen sieht Chancen auf und durch Demokratisierung und kritisiert die konkrete Ausgestaltung der demokratischen Institutionen, so das Präsidialsystem, zu viel Zentralismus und ein unpassendes Verfahren für Parlamentswahlen. Der Einmarsch im Irak 2003 löste die Diskussion aus, ob er dem Einsatz in Afghanistan schadete, indem er von dort Ressourcen und Aufmerksamkeit abzog.

Ausgehend von einem frei zugänglichen Literaturbericht in der Politischen Vierteljahresschrift hebe ich im Folgenden ein umstrittenes Erklärungsangebot heraus, dem ich große Resonanz in Politik und Öffentlichkeit zutraue, das aber problematische Lehren für Entscheidungen über Einsätze in der Zukunft impliziert. Demnach sei der Afghanistan-Einsatz erst mit seinem Ende gescheitert.

Der Abzug als Ursache des Scheiterns?

Diese Sicht macht den internationalen Abzug nach dem Doha-Abkommen für die späteren Entwicklungen verantwortlich. In Doha hatten am 29. Februar 2020 die USA mit den Taliban den Abzug der internationalen Truppen vereinbart. Im Gegenzug sicherten die Aufständischen zu, innerafghanische Friedensgespräche zu beginnen und keine Angriffe von Afghanistan aus auf die Vereinigten Staaten und deren Verbündeten zuzulassen. Der Abzug habe den materiellen Fähigkeiten und der Moral der afghanischen Sicherheitskräfte den entscheidenden Schlag versetzt. Ohne diesen hätte die Regierungsseite trotz aller Probleme noch lange durchhalten können. Der Abzug nahm den afghanischen Sicherheitskräften Luftunterstützung durch die internationalen Truppen und auch durch die eigene Luftwaffe, da diese von ausländischen Unternehmen instandgehalten wurde, die das Land verließen. Viele Stützpunkte boten ohne Versorgung aus der Luft den Aufständischen ein leichtes Ziel. Das Doha-Abkommen gilt nicht nur in seinen Inhalten, sondern auch in seinem Zustandekommen als problematisch. Die afghanische Regierung wurde an seiner Aushandlung nicht beteiligt und so als übergehbare Größe vorgeführt. Das spornte den Aufstand der Taliban an und demoralisierte die afghanischen Sicherheitskräfte, die im Auftrag ihrer Regierung kämpfen sollten.

Die Erklärung, der Einsatz sei erst durch seine Beendigung gescheitert, halten andere Beiträge für zu kurz gegriffen. Ich teile diesen Vorbehalt, bedenkt die skizzierte Erklärung doch zu wenig, dass in zeitgenössischen innerstaatlichen Kriegen nur selten die Aufständischen siegen, die afghanischen Sicherheitskräfte von den Vereinigten Staaten mit rund 90 Mrd. US-$ ertüchtigt wurden und den Taliban in Zahl und Ausrüstung überlegen waren. Eine geringe Moral in den Sicherheitskräften bereitete schon lange vor dem Abzug Probleme, wie sich etwa 2015 in Kundus zeigte, wo 3.000 Soldaten und Polizisten vor 500 angreifenden Taliban flohen. Es fehlte offenbar an Motivation, die seit 2001 geschaffene politische Ordnung zu verteidigen. Darin zeigte sich deren unzureichende Legitimität, woran auch die anlässlich von Mandatsverlängerungen gerne angeführten verbesserten Lebensbedingungen vieler Afghan*innen nichts änderten. Wahlen, die immer weniger demokratischen Kriterien genügten, zuletzt unter extrem geringer Beteiligung litten und zu dysfunktionalen Regierungen führten, verschafften der neuen Ordnung ebenso wenig die erforderliche Unterstützung.

Vorsicht vor falschen Lehren

Die These, der Einsatz in Afghanistan sei erst durch seine Beendigung gescheitert, könnte in Politik und interessierter Öffentlichkeit einigen Anklang finden. Ihre knappe Argumentation hebt sie von weit ausholenden, unübersichtlichen Erklärungsangeboten ab, die viele verschiedene Ursachen zusammenführen und lange Zeiträume berücksichtigen. Der katastrophal verlaufene Abzug, markiert durch die dramatischen Bilder vom Flughafen Kabul, lässt es erst einmal plausibel erscheinen, dass der internationale Einsatz durch seine Beendigung fehlgeschlagen sei. Diese These erlaubt es zudem, die politische Verantwortung vor allem den US-Präsidenten Trump und Biden zuzuschieben, die den internationalen Abzug vorangetrieben hatten. Damit entlastet sie das vorherige Engagement und die anderen daran Beteiligten. Doch bereits vor dem Abzug waren internationale Anstrengungen, Afghanistan neuzuordnen und zu stabilisieren, fehlgeschlagen. Es wäre ein Versäumnis, daraus keine Lehren für künftige Einsätze abzuleiten. Bei der Entscheidung über einen Einsatz gilt es unbedingt, auch auf dessen mögliche Enden zu sehen. Ein sorgfältiges Abwägen muss aber weiter ausgreifen. Ungeeignete Exit-Strategien können vorherige Erfolge des Einsatzes zunichtemachen, doch macht auch die beste Exit-Strategie nicht alle vorangegangenen Fehlentwicklungen wett.

Hinweis

Eine längere Version dieses Beitrags erschien als Gromes, Thorsten 2023: Scheitern in Afghanistan: Wenn es sich Ursachenforschung zu einfach macht, PRIF Spotlight 11/2023.

Über den Autor:

Thorsten Gromes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Peace Research Institute Frankfurt (PRIF, früher HSFK). Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen.