Autor*innen: Marco Bitschnau und Marlene Mußotter
Konzepte sind das Salz jeder guten (politik-)wissenschaftlichen Suppe. Ohne sie kein Zugriff auf die Realität, keine systematische Analyse, ja, noch nicht einmal eine Objektbezogenheit, die über das Plattitüdenhafte hinausreicht. Zugleich sind sie aber auch umkämpft und wandelbar, was die Auseinandersetzung mit ihnen mitunter zur forscherischen Kärrnerarbeit geraten lässt. Schwierig wird es vor allem, wenn ein Konzept, das ein ganzes Feld an Möglichkeiten und Bedeutungen umfasst, zur Messbarmachung in mehr oder weniger wohlportionierte Einzelteile zerlegt wird, die sich bei genauerer Betrachtung in eher zweifelhaftem Näheverhältnis zu ihm befinden. Gar noch schwieriger, wenn die so gewonnenen Items auch noch im Widerspruch zur Außenwahrnehmung stehen: Wenn sie also ein Konzept fassbar machen sollen, von den dazu Befragten aber nicht als diesem zugehörig wahrgenommen werden. Einer solchen Diskrepanz sind wir in einem jüngst erschienenen Beitrag für die Politische Vierteljahresschrift nachgegangen, in dem wir Thomas Blanks und Peter Schmidts auch international häufig verwendete Einstellungsitems zur nationalen Identität mit den Wahrnehmungen eines Samples von insgesamt 424 Studierenden verschiedener deutscher Universitäten abgeglichen haben.
Unser Ausgangspunkt war dabei, dass Blank und Schmidt in ihrer Forschung über Einstellungen zur Nation eine idealtypische Dreigliederung vornehmen: Da ist erstens der auf Aggression und Vorherrschaft zielende Nationalismus, zweitens der von staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein getragene Patriotismus und drittens die Basiskategorie der nationalen Identität, die gewissermaßen am Urgrund der „positiven Bewertung kollektiver Güter“ steht und an den beiden anderen Konzepten gleichermaßen Anteil hat. Man muss sich das Ganze wohl ein wenig wie einen Baum vorstellen, dessen Stamm das nationale Identifikationspotential bildet und der dann je nach den Verhältnissen nationalistisches oder patriotisches Blätterwerk hervorbringt. In jedem Fall gilt für Blank und Schmidt, dass sich diese Kategorien in spezifischen, einander wechselseitig ausschließenden Haltungsmustern niederschlagen und mit passenden Itembatterien gemessen werden können. So verweise zum Beispiel der Stolz auf die deutsche Geschichte (Nat-2) auf den Nationalismus, der Stolz auf die hiesigen Partizipationsmöglichkeiten (Pat-3) auf den Patriotismus, die innere Bindung zu Deutschland (Ident-2) auf die nationale Identität und so weiter.
Allerhand Unschärfen
In unserer Studie ließen wir unsere Teilnehmer*innen das von Blank und Schmidt ursprünglich (1997) zusammengestellte Set von zehn Items (vier für Nationalismus, drei für Patriotismus und drei für nationale Identität) diesen drei Kategorien zuordnen, ohne dass die Originalzuordnung vorher bekannt war. Unsere Hypothese: Nur bei einer kleine Minderheit der Items würde sich die „Laiensicht“ mit der autorenseitigen Kategorisierung decken, wobei wir jene Items gesondert unter die Lupe nahmen, bei denen uns eine solche Abweichung besonders naheliegend erschien – sei es, weil Blanks und Schmidts Einteilung den Itemkern nicht angemessen abbildet, sei es, weil sie besagten Kern einst angemessen abgebildet haben mag, sich aber in den letzten beiden Jahrzehnten eine beträchtliche Wahrnehmungsverschiebung eingestellt hat. Zur ersten Variante gehört beispielsweise das Item „Ich liebe mein Vaterland“ (Ident-3), das Blank und Schmidt dem identitären Formenkreis zuordnen, obschon es sowohl im Deutschen als auch im Englischen geradezu als Wörterbuchdefinition des Patriotismus gelten kann: Selbst der Duden führt unter dem entsprechenden Eintrag die „Liebe zum Vaterland“ auf. Tatsächlich traf unsere Annahme in diesem Fall insofern ins Schwarze, als nur ein Sechstel der Befragten (16,5%) die Vaterlandsliebe ebenfalls auf die nationale Identität bezog, während sich ein Viertel (25,2%) für den Nationalismus und eine klare Mehrheit (58,3%) für den erwarteten Patriotismus aussprach.
Ein analoges Beispiel für die zweite Variante stellt das Nationalismus-Item „Ich bin auf die deutschen Erfolge im Sport stolz“ (Nat-3) dar, das noch erkennbar aus einer Zeit stammt, in der allzu frenetisches Flaggenschwenken bei Sportgroßveranstaltungen im Ruch dumpfen Überlegenheitsdenkens stand. Bilder wie die des von Hooligans brutal zusammengeschlagenen Polizisten Daniel Nivel oder des mit Deutschlandtrikot und eingenässter Jogginghose hitlergrüßenden Harald Ewert gingen damals um die Welt und prägten das Bild einer aggressiven Prollkultur, die das Schlachtfeld zwar durch das Stadion ersetzt hatte, ansonsten aber noch immer in alten Anfeindungsreflexen zu verharren schien. Nur eine Generation später ist diese Assoziation denkbar hinfällig: Gerade die Fußballnationalmannschaft der Herren – die mit Abstand wirkmächtigste Stolzquelle im hiesigen Berufssportwesen – hat sich seit dem „Sommermärchen“ 2006 zu einer Schlüsselinstitution des Multikulturalismus und damit zum Sinnbild eines weltoffenen Deutschlands gewandelt. Wer hierzulande als Nationalist gilt, dürfte jedenfalls nur bedingt Gefallen daran finden, wie all die Leroy Sanés und Serge Gnabrys vor Regenbogenfahnen posieren und für Say-no-to-racism-Kampagnen werben. Kaum überraschend teilte das Gros der Befragten auch diese Einschätzung und klassifizierte den Sportstolz eher als identitär (55,4%) oder patriotisch (38,0%) denn als nationalistisch (nur 6,6%!).
Mehr Innehalten nötig
In der Summe gab es unter den zehn Items nur zwei, bei denen sich eine (knappe) Mehrheit für die Originalkategorisierung aussprach; zumeist fand sich diese eher – wie in den genannten Beispielen – abgeschlagen auf dem letzten Platz. Um dieser Abweichung zumindest näherungsweise auf den Grund zu gehen, prüften wir in einer zweiten Hypothese die Annahme, dass die meisten Items in ihrer Mehrdeutigkeit nur schwer zu verstehen sind. Wer etwa fragt, ob man denn stolz sei, dass Deutschland „die Nummer 1 in Europa“ (Nat-4) ist, aber weder konkretisiert, was mit „Nummer 1“ (Die größte Wirtschaftsmacht? Der politische Hegemon? Das Land mit der liberalsten Flüchtlingspolitik?) noch was mit „Europa“ gemeint ist, macht sich schließlich in besonderem Maße abhängig von Wissensstand und Gedankenoffenheit seines Publikums. Und wer Volkes Stolz auf nicht näher benannte „demokratische Institutionen Deutschlands“ (Pat-1) abprüfen will, darf sich über etwaige Verwirrungslagen ebenso wenig wundern. Dass ein solches Item etwas mit Patriotismus zu tun haben soll, leuchtet intuitiv ohnehin nicht so recht ein, kann man doch die hiesige Demokratie auch für stark verbesserungs- und ergo nicht stolzwürdig halten, ohne deshalb gleich eine unpatriotische Gesinnung zu pflegen. Ja, es ließe sich gar argumentieren, dass gerade eine solche Unzufriedenheit mit dem Status quo zumindest so weit als patriotisch gedeutet werden kann, wie ihr eine ernstgemeinte Verbesserungsabsicht zugrunde liegt.
Indes zeigt sich in der Gesamtschau kein direkter Zusammenhang zwischen als unverständlich geltenden Items und solchen, bei denen die Kategorisierung der Befragten besonders stark vom Original abweicht. Es besteht also eine doppelte statt einer gekoppelten Problematik, bei der Items zwar als unspezifisch und vage erkannt, doch nicht etwa zufällig, sondern einseitig abweichend zugeordnet werden. Unabhängig von den konkreten Gegebenheiten zeigt sich so die Notwendigkeit beständiger und gewissenhafter Konzeptarbeit, auf die wir bereits vergangenes Jahr in einem Beitrag für das Journal of Political Ideologies hingewiesen haben. Allzu oft werden Items kritiklos aus der Literatur übernommen, die in zeitlicher (Ist das Item noch relevant?) und räumlicher (Ist das Item hier relevant?) Hinsicht Fragen aufwerfen und insbesondere vergleichende Arbeiten in den Verdacht bringen, mit der Brechstange zusammenzuzwängen, was kontextuell disparat ist. Wenn – wie in diesem Fall – dann auch noch eine Kluft gegenüber der allgemeinen Itemwahrnehmung besteht, die sich in Teilen auf die Verschiebung des Bedeutungsgehalts zurückführen lässt (oder eine solche Verschiebung nahelegt), dann ist dies erst recht ein Warnzeichen, das Anlass zum Innehalten und zur methodischen Reflektion geben sollte.
Über die Autor*innen:
Marco Bitschnau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie (Schwerpunkt soziale Bewegungen) der Universität Konstanz und Mitglied des Exzellenzclusters The Politics of Inequality.
Marlene Mußotter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Methoden der empirischen Sozialforschung der Universität Passau.