Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Der Konferenz zur Zukunft Europas fehlt eine klare Konzeption demokratischer Autorisierung

Die lang erwartete „Konferenz zur Zukunft Europas“ nimmt Fahrt auf. Am 10. März 2021 unterzeichneten die Präsident*innen von EU-Kommission, Europäischem Parlament und Rat eine gemeinsame Erklärung, die die Grundstruktur des Gremiums festlegt.

Die Konferenz soll als demokratisches Forum für Debatten über EU-Reformen dienen. Das erklärte Ziel ist „ein an die Bürgerinnen und Bürger gerichteter, nach dem Bottom-up-Ansatz geführter Prozess, mit dem es den Europäerinnen und Europäern ermöglicht werden soll, ihre Erwartungen an die Europäische Union vorzutragen.“ Am Ende der einjährigen Laufzeit sollen konkrete Vorschläge für die Zukunft der EU stehen.

In meinem kürzlich erschienenen Buch Constituent Power in the European Union entwickele ich eine Theorie verfassunggebender Gewalt in der EU, die dazu dienen kann, dieses demokratische Versprechen auf die Probe zu stellen.

Ein demokratisches Versprechen

Die Bürger*innen kommen im Prozess der europäischen Integration seit langem kaum über die Rolle von Nebendarsteller*innen hinaus. Über Aufbau und Funktionen der EU befinden in erster Linie Regierungen und Gerichte, wobei umfangreiche Befugnisse von der nationalen auf die europäische Ebene transferiert wurden. Aus demokratietheoretischer Sicht erscheint dieser Modus der Gestaltung der EU fragwürdig.

Klassischerweise wird zwischen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und den verfassten Gewalten des politischen Systems (z.B. Parlament, Regierung und Gerichte) unterschieden. Dabei wird angenommen, dass die verfassten Gewalten für ihre Legitimität auf eine demokratische Autorisierung durch die verfassunggebende Gewalt angewiesen sind.

Die zentrale Idee ist, dass Struktur und Kompetenzen öffentlicher Gewalten von denjenigen bestimmt werden sollten, die ihrer Herrschaft unterworfen sind. Umgekehrt sollten die politischen Institutionen, um deren Befugnisse es geht, nicht in solche Entscheidungen involviert sein.

Man kann die Konferenz zur Zukunft Europas als ein demokratisches Versprechen verstehen, die Dinge gerade zu rücken. Könnte die Konferenz die Bürger*innen endlich in die Lage versetzen, selbst über die Zukunft der EU zu bestimmen?

Bottom-up vs. Top-down

Die Konferenz wurde seit ihrer Ankündigung durch Ursula von der Leyen im Jahr 2019 stets von Bottom-up-Rhetorik begleitet. Doch schon früh gab es Zweifel, ob die Realität den feierlichen Worten des Kommissionsvorschlags gerecht werden würde. Die gemeinsame Erklärung scheint die skeptischen Stimmen zu bestätigen.

Die Konferenz „wird den drei Organen unterstellt“, d.h. Kommission, Europäischem Parlament und Rat, vertreten durch ihre Präsident*innen, die als gemeinsamer Vorsitz agieren. Ein Exekutivausschuss, der sich ebenfalls aus Repräsentant*innen der drei Organe zusammensetzt, ist für Beschlüsse über die Arbeit der Konferenz sowie für die Schlussfolgerungen aus der Arbeit der – rein deliberativen – Plenarversammlung verantwortlich.

Diese Konstellation legt eine Art der Top-down-Steuerung nahe, die der demokratischen Arbeitsteilung widerspricht, die aus der Unterscheidung zwischen verfassunggebenden und verfassten Gewalten folgt. Die EU-Institutionen verstehen sich offenbar nicht als Treuhänder widerrufbarer Befugnisse, die von der Autorisierung der Bürger*innen abhängig sind. Vielmehr sehen sie sich legitimiert, die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Bezeichnenderweise versprach von der Leyen, in großzügigem Tonfall, die Konferenz werde die EU-Institutionen und die Bürger*innen als „gleichberechtigte[] Partner[]“ zusammenbringen.

Die gemeinsame Erklärung spiegelt jedoch die Absicht wider, jeglichen Forderungen nach institutionellen Veränderungen von Anfang an einen Riegel vorzuschieben. Verschiedentlich wird betont, etwaige Reformen müssten im Einklang mit den EU-Verträgen und den darin festgelegten Zuständigkeiten und Prinzipien angestoßen werden.

Unmittelbar nach der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung beeilten sich mehrere Mitgliedstaaten, in einem Positionspapier hinzuzufügen, die Konferenz solle die EU keinesfalls rechtlich verpflichten, Änderungen umzusetzen.

Sich selbst als Reformer einsetzend, sind die EU-Institutionen bereit, die Bürger*innen zu konsultieren – aber nur zu ihren eigenen Bedingungen.

Bei wem liegt die verfassunggebende Gewalt?

Die hierarchische Struktur der Konferenz und ihre fehlende Entscheidungsmacht sind allerdings nicht die einzigen Schwierigkeiten. Aus demokratischer Sicht ebenso problematisch ist das Fehlen einer klaren Vorstellung davon, wer im EU-Kontext als das „Volk“ gelten soll.

An dieser Stelle kommen drei Modelle verfassunggebender Gewalt in der EU infrage:

  • Nach dem regional-kosmopolitischen Modell liegt die verfassunggebende Gewalt bei der politischen Gemeinschaft der EU-Bürger*innen.
  • Das demoi-kratische Modell geht davon aus, dass die Völker der Mitgliedstaaten als verfassunggebende Gewalt der EU auftreten.
  • Das Modell des pouvoir constituant mixte verfolgt einen Mittelweg, demzufolge die verfassunggebende Gewalt der EU sich aus den Bürger*innen in der Doppelrolle von Europäer*innen und Mitgliedern ihrer Nationalstaaten zusammensetzt.

Je nachdem, welche Sichtweise man hier vertritt, ergeben sich unterschiedliche Anforderungen an einen demokratischen Reformprozess der EU. Sollte sich beispielsweise die Plenarversammlung der Konferenz aus europäischen oder nationalen Repräsentant*innen zusammensetzen – oder beides? Ebenso kommt man zu unterschiedlichen Vorstellungen, auf welcher Ebene Entscheidungen getroffen werden sollten.

Die gemeinsame Erklärung bleibt in solchen Fragen völlig uneindeutig. Verweise auf die Bürger*innen sind allgemein gehalten und lassen kein spezifisches Verständnis der verfassunggebenden Gewalt der EU erkennen.

Auch die vorgesehenen Formen der Beteiligung ergeben kein kohärentes Bild. Die Konferenz soll Veranstaltungen mit der Zivilgesellschaft, Interessenvertreter*innen, Sozialpartnern, der Wissenschaft, Parlamenten, dem Ausschuss der Regionen und dem Wirtschafts- und Sozialausschuss ausrichten. Diese sollen auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene stattfinden. Fast alle der genannten Akteur*innen sollen zudem in der Plenarversammlung vertreten sein. Obendrein wird es europäische und nationale Bürgerpanels geben.

Ein Fest der Konfusion

Die EU präsentiert dieses Setup als Ausdruck von Offenheit und Inklusivität. Es verdeutlicht jedoch vor allem, dass es der Konferenz an einer klaren Konzeption demokratischer Autorisierung fehlt.

Wer ermächtigt wen, die Zukunft der EU zu gestalten, und wie? In wessen Namen soll die Konferenz sprechen, und warum sollen wir annehmen dürfen, dass sie dazu legitimiert ist?

Mit der breiten, aber unsystematischen Einbeziehung unterschiedlicher Stakeholder läuft die Konferenz zur Zukunft Europas Gefahr, zu einem Fest der Konfusion zu werden. Angesichts der eklektischen Struktur und Zusammensetzung des Gremiums wird für die Bürger*innen kaum ersichtlich sein, wie die verschiedenen Teile zusammenspielen, wer ein demokratisches Mandat wofür beanspruchen kann und wer für Ergebnisse verantwortlich zeichnet.

Auf diese Weise droht das Projekt sein erklärtes Ziel zu untergraben: die Bürger*innen zur Gestaltung der EU zu ermächtigen.

 

Dieser Beitrag ist zuvor auf Englisch im Blog „The Loop“ des European Consortium for Political Research (ECPR) erschienen.

 

Über den Autor:

Dr. Markus Patberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie der Universität Hamburg.