Autoren: Tim Heinkelmann-Wild und Bernhard Zangl
Im Zuge der Corona-Pandemie warfen die USA der Weltgesundheitsorganisation vor, bei ihrem Krisen-Management zu versagen, und gaben ihr die Schuld für die verspätete Reaktion auf den Virus. Dies ist kein Einzelfall. Wo immer die Politiken internationaler Organisationen (IOs) nicht die gewünschten Konsequenzen haben, versuchen die Regierungen der Mitgliedsstaaten typischerweise, die Verantwortung auf sie abzuwälzen. Dies ist umso attraktiver, da IOs als gute Sündenböcke gelten: Sie müssen sich weniger zur Wehr setzen, weil sie sich nicht demokratischen Wahlen zu stellen haben. Sie können sich weniger zur Wehr setzen, weil sie in der Öffentlichkeit weniger Gehör finden. Sie wollen sich weniger zur Wehr setzen, weil sie von den Regierungen der Mitgliedsstaaten abhängen und Rücksicht nehmen müssen.
IOs können sich gegen mitgliedsstaatliche Schulzuweisungen aktiv wehren
In unserem jüngsten Beitrag in der Politischen Vierteljahresschrift argumentieren wir, dass IOs keineswegs nur passive Sündenböcke, sondern vielmehr aktive Schuldvermeider sind. Sofern Mitgliedsstaaten IOs für problematische Politiken verantwortlich machen, beeinträchtigt dies nicht nur die Legitimität ihrer Politiken, sondern ihre Legitimität insgesamt. Dies schadet der Autorität von IOs, welche vornehmlich von der Anerkennung der Adressaten ihrer Politiken abhängt, für die sie verbindliche Entscheidungen treffen und umsetzen. IO-Repräsentant*innen können sich bei der Verteidigung „ihrer“ IO gegen mitgliedsstaatliche Schuldzuweisungen verschiedener Schuldvermeidungsstrategien bedienen:
Welche der drei Schuldvermeidungsstrategien IOs wählen, hängt von ihrer Autorität ab. Denn je nachdem, ob IOs allein, mit den Mitgliedsstaaten zusammen oder gar nicht am Beschluss und der Umsetzung von Politiken beteiligt sind, können sie die Schuld der IO für fehlgeschlagene Politiken mehr oder weniger plausibel bestreiten (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Autorität und die Schuldvermeidungsstrategien von IOs
IOs mit intergouvernementaler Autorität ignorieren Schuldzuweisungen
IOs besitzen intergouvernementale Autorität, wenn die Mitgliedsstaaten mit dem Beschluss und der Umsetzung von IO-Politiken betraut sind. Beispielsweise üben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik Autorität aus, während supranationalen EU-Organen wie der Europäischen Kommission keine entscheidende Rolle zukommt.
Die Möglichkeiten von intergouvernementalen IOs, mitgliedsstaatlichen Schuldzuweisungen in der Öffentlichkeit zu entrinnen, sind also vergleichsweise gut. Da alle Entscheidungen durch die Mitgliedsstaaten getroffen und umgesetzt werden, können IOs plausibel argumentieren, für gescheiterte Politiken nicht verantwortlich zu sein.
Da aber intergouvernementale IOs selbst wenig plausible Adressaten von Schuldzuweisungen sind, ist die Notwendigkeit zur aktiven Schuldvermeidung kaum gegeben. Einerseits bleibt die Gefahr gering, am Ende in der Öffentlichkeit als Schuldiger dazustehen, da sie darauf vertrauen können, von anderen politischen Akteuren verteidigt zu werden. Andererseits wäre eine Reaktion jenseits des Ignorierens möglicherweise sogar kontraproduktiv, denn dies würde nicht nur die Mitgliedsstaaten gegen sie aufbringen, sondern auch die öffentliche Aufmerksamkeit auf die gescheiterte IO-Politik lenken. IOs mit intergouvernementaler Autorität werden mitgliedsstaatliche Schuldzuweisungen für gescheiterte IO-Politiken also ignorieren.
IOs mit supranationaler Autorität verschleiern ihre Mitverantwortung
IOs besitzen supranationale Autorität, wenn sie mit dem Beschluss und der Umsetzung von IO-Politiken befasst sind. Zum Beispiel übt die Europäische Zentralbank unabhängig von den EU-Mitgliedsstaaten Autorität im Bereich der Euro-Währungspolitik aus.
Haben IOs supranationale Autorität, ist die Notwendigkeit, mitgliedsstaatlichen Schuldzuweisungen in der Öffentlichkeit zu begegnen, besonders groß. In diesem Fall verfügen sie über unabhängige politische Entscheidungs- und Umsetzungskompetenz und sind ein plausibler Adressat mitgliedsstaatlicher Schuldzuweisungen. Dementsprechend können IOs kaum hoffen, dass ihre Verantwortung für die gescheiterte Politik unbemerkt bleibt, sondern müssen sich aktiv wehren, um in der Öffentlichkeit nicht als Schuldige dazustehen.
Zugleich sind ihre Möglichkeiten, in der Öffentlichkeit mitgliedsstaatlichen Schuldzuweisungen zu entkommen, besonders beschränkt. Aufgrund ihrer supranationalen Autorität können IOs ihre Verantwortung für gescheiterte Politiken kaum plausibel abstreiten. Deshalb werden IOs versuchen, in der Öffentlichkeit zurückhaltend auf die Mitverantwortung ihrer Mitgliedsstaaten zu verweisen, ohne diese gegen sich aufzubringen. IOs mit supranationaler Autorität werden die Schuld für gescheiterte IO-Politiken also tendenziell verschleiern.
IOs mit geteilter Autorität attackieren ihre Mitgliedsstaaten
IOs üben politische Autorität geteilt aus, wenn intergouvernementale und supranationale Organe gemeinsam am Beschluss und der Umsetzung von IO-Politiken beteiligt sind. Beispielsweise wirken an der EU-Sozialpolitik sowohl supranationale Akteure wie die EU-Kommission oder der Europäische Gerichtshof als auch EU-Mitgliedsstaaten und ihre lokalen Behörden mit.
Wird in IOs Autorität geteilt von intergouvernementalen und supranationalen Organen ausgeübt, so ist für die IO die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit gegeben, den Schuldzuweisungen ihrer Mitgliedsstaaten für gescheiterte Politiken in der Öffentlichkeit aktiv zu begegnen. Die Notwendigkeit besteht, da unabhängige IO-Organe plausible Adressaten mitgliedsstaatlicher Schuldzuweisungen sind und somit aktiv gegen diese vorgehen müssen.
Zugleich besitzen sie gute Möglichkeiten, Verantwortung an die Mitgliedsstaaten zurückzuweisen. Da diese ebenfalls an den Entscheidungen über und der Umsetzung von IO-Politiken beteiligt sind, können IOs die Schuld plausibel auf sie abwälzen. IOs mit hybrider Autorität werden also ihre Mitgliedsstaaten attackieren, um deren Schuldzuweisungen für gescheiterte IO-Politiken in der Öffentlichkeit zurückzuweisen.
IO Schuldvermeidung trägt zur Transparenz internationaler Politik bei
Zusammengefasst sind IOs keine wehrlosen Sündenböcke, sondern aktive Schuldvermeider. Weltweit lässt sich beobachten, dass IOs mit zunehmender Autorität ausgestattet werden. Daher ist zu erwarten, dass IOs immer weniger mitgliedsstaatliche Schuldzuweisungen ignorieren. Stattdessen verschleiern sie ihre Schuld oder attackieren ihre Mitgliedsstaaten.
Diese Entwicklung ist keinesfalls negativ zu bewerten. Widersetzen sich IOs mitgliedsstaatlichen Schuldzuweisungen, dann trägt dies zur öffentlichen Information bei. Nach dem Prinzip der Wettbewerbsdemokratie sind „blame games“ zwischen Mitgliedsstaaten und IO-Repräsentant*innen also der Transparenz internationaler Politik zuträglich.
Über die Autoren:
Tim Heinkelmann-Wild ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Global Governance und Public Policy am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Bernhard Zangl ist Professor für Global Governance und Public Policy und Inhaber des Lehrstuhls am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.