Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Zufallsbürger*innen – Glücksfall für die Demokratie?

Als Reaktion auf die Abwanderung vieler Wähler*innen zu rechtspopulistischen Parteien in Europa werden derzeit in der politischen Wissenschaft und Praxis diverse Formen der Bürgerbeteiligung diskutiert und durchgeführt. Zyklische Debatte über Partizipation und Deliberation umfassen u.a. Volksentscheide auf nationaler Ebene in Deutschland, die Möglichkeit eines Bürgereinwandes auf Landesebene in Sachsen, Bürgerräte in Belgien, die die legislative Tätigkeit der gewählten Repräsentanten dauerhaft flankieren sollen und Bürgerversammlungen auf nationaler Ebene in Irland, die Lösungen für zentrale gesellschaftspolitische Fragen wie die gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibung erarbeiten.

In Leipzig fand im September 2019 der nationale Bürgerrat Demokratie statt (www.buergerrat.de). Initiiert wurde das Projekt vom Verein „Mehr Demokratie“ und von der Schöpflin-Stiftung. Der Aufwand ist groß. Er entspricht in Organisation und Kosten dem staatlichen Bürgerbeteiligungsformat in Irland (ca. 1,5 Mio. Euro). 160 nach einem mehrstufigen Zufallsprinzip ausgeloste Bürger*innen tagen, unterstützt durch Experten aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, im Plenum unter Vorsitz von Günther Beckstein. Sie diskutieren in moderierten Kleingruppen Themen, die zuvor auf sechs Regionalkonferenzen in Erfurt, Schwerin, Koblenz, Mannheim und München von Bürger*innen erörtert wurden, die die deutsche Bevölkerung in etwa repräsentativ vertreten. Am Ende des Prozesses wird ein Bürgergutachten an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble und hochrangige Politiker*innen übergeben. Ziel ist es, eine intensive Kooperation von Bürger*innen und Politiker*innen anzustoßen und die Vorschläge zur Verbesserung der deutschen Demokratie gemeinsam umzusetzen. Ein Beirat aus Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen begleitet das Projekt.

Dieses Projekt reiht sich in eine Vielzahl ähnlicher Verfahren ein. Zwei davon werden kurz vorgestellt:

In Irland tagten Zufallsbürger*innen [1] bereits zweimal in der Citizens‘ Assembly und berieten mit großem Erfolg über zentrale Themen, die die irische Gesellschaft bewegten. Zu den bekanntesten zählen in der ersten Phase die gleichgeschlechtliche Ehe und in der zweiten Phase das Recht auf Abtreibung. In beiden Fällen mündeten die Beratungen in Referenden. Die Vorschläge der Citizens‘ Assembly wurden angenommen.

In Belgien wurde in der Deutschsprachigen Gemeinschaft ein dauerhafter Bürgerrat eingeführt, dessen Mitglieder ebenfalls in einem Losverfahren bestimmt werden (www.pdg.be/desktopdefault.aspx/tabid-5421/9372_read-56650/). Nach einer eineinhalbjährigen Startphase werden in einem Halbjahresrhythmus ein Drittel der Mitglieder ausgetauscht. Bürgerversammlungen erarbeiten aus ein bis drei Themen pro Jahr Empfehlungen, die der Bürgerrat an das Regionalparlament und die Regionalregierung überstellt. Diese sind an die Handlungsempfehlungen nicht gebunden, müssen aber öffentlich Rechenschaft ablegen, wenn sie ihnen nicht folgen.


Bürgerbeteiligungsformate: Großartig für unsere Demokratie!?

Viele Menschen, nicht nur in Deutschland, sind seit Langem unzufrieden mit der Demokratie. Bislang resultierten aus dieser Unzufriedenheit nur punktuelle Effekte. Das Vertrauen in Parteien und Politiker*innen war und blieb gering. Die Wahlbeteiligung ging zurück, ab und zu kam es zu umfangreicherem Protestwahlverhalten, etwa bei Wahlen zum Europäischen Parlament. Aufgerüttelt wurde dadurch aber keiner! Doch dieses weitgehend stille Exit-Verhalten (Verzicht auf politische Partizipation) schlägt aktuell in ein nachhaltiges und vor allem dauerhafteres und lautes Voice-Verhalten (Albert O. Hirschman. 2019. Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organisations and States. Cambridge: Harvard University Press (new ed.)) um (Wahlerfolge der AfD, Hate Speech, rüpelhaftes und strafbares Verhalten einzelner Politiker und ihrer Sympathisanten) und die Sorgen um den Zustand der Demokratie mehren sich. Anders als in Irland und Belgien traut die Politik auf regionaler und nationaler Ebene den deutschen Bürger*innen eine dauerhafte, nachhaltige und über repräsentative Verfahren sowie vereinzelte Referenden hinausgehende Mitwirkung offenbar nicht wirklich zu.

Gustav Heinemann hat einmal gesagt: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“ Sollen wir also unsere Demokratie nachhaltig verändern, indem wir den Bürger*innen mehr Beteiligung ermöglichen? Ja, unbedingt. Aber man muss es richtig machen.

Zunächst muss eine nachhaltige Bürger*innenbeteiligung, egal, ob sie Top-down erfolgt oder ob sie Bottom-up organisiert wird, einen hohen Verpflichtungsgrad bei den politisch Verantwortlichen erzeugen. Top-down, also von den politisch verantwortlichen und von den Bürger*innen gewählten Volksvertreter*innen initiierte Beteiligungen der Bürger*innen basieren auf gesetzlichen Regelungen. Es wird geregelt, wie weit die Beteiligung geht, was sie umfasst und wie ihre Ergebnisse in den politischen Willensbildungsprozess eingespeist werden. In Irland und Belgien müssen die Regierungen und Parlamente über die Bürgerbeschlüsse beraten. Sie müssen öffentlich begründen, wenn sie sie nicht berücksichtigen. Findet ein Bürgerbeschluss zur Verfassungsänderung in Irland die Zustimmung von Regierung und Parlament, müssen sie einen Zeitplan für ein Referendum ausarbeiten. Die Selbstverpflichtung der politisch Verantwortlichen ist in diesen Fällen sehr hoch. Sie ist gespeist aus der Erkenntnis, dass sich etwas an den demokratischen Verfahren ändern muss. Die Angebote sollen dazu dienen den/die Bürger*in zu emanzipieren, zu respektieren und an der politischen Willensbildung umfänglich und nachhaltig zu beteiligen. Diese Verfahren ersetzen die repräsentativen Verfahren nicht, sie ergänzen sie sinnvoll. Das erzeugt eine Bodenhaftung der Demokratie.

Bottom-up, also aus der Zivilgesellschaft organisiert, birgt, so auch in Leipzig, einige überraschende Erkenntnisse für die politisch Verantwortlichen und die Bürger*innen. Die Bürger*innen sind sehr wohl in der Lage, komplexe politische Themen sach- und lösungsorientiert zu diskutieren. Das haben sie in vielen kleinteiligen Beteiligungsformaten zuvor belegt. Sie erkennen die Schwachstellen unserer Demokratie und erarbeiten Vorschläge, diese zu beheben. Experten helfen ihnen durch thematische Vorträge. Am Ende stehen jedoch die politisch Verantwortlichen, in diesem Fall in Berlin: Werden sie die Bürgerempfehlungen annehmen? Sind sie zugänglich für die Wünsche der Bürger*innen? Zeigen sie sich responsiv, bearbeiten die Vorschläge im Bundestag und setzen diese in konkrete Handlungsanweisungen (Vorschriften und Gesetze) um? Der Erfolg des Bürgerrates Demokratie steht und fällt mit dieser Entscheidung. Nehmen die Politiker*innen die Bürgerempfehlung zwar wohlwollend und wortreich entgegen, versenken sie aber in den Schubladen ihrer Schreibtische, dann hat die Initiative der deutschen Demokratie geschadet. Die Bürger*innen, die dem demokratischen Prozess skeptisch gegenüberstehen, fühlen sich bestätigt – die Politiker*innen hätten ihre Distanz zu den Bürger*innen erneut belegt. Die am Bürgerrat beteiligten Bürger*innen würden sich wahrscheinlich nachhaltig von demokratischen Prozessen abwenden. Nehmen die Politiker die Empfehlungen an, so ist dies ein starkes Zeichen für die Mitwirkung der Bürger*innen offenen Demokratie. Initiativen aus der Zivilgesellschaft können auch auf nationaler Ebene zum Gelingen der Demokratie beitragen und den deliberativen Prozess stärken.

Aber nicht nur die Reaktion der politisch Verantwortlichen, auch die Formate der Veranstaltungen tragen zu einem, im Sinne der Förderung demokratischer Unterstützung, gelungen Verlauf der Bürgerbeteiligung bei: Eine gute Beteiligungspraxis lässt sich als Anerkennung des/der Einwohner*in als Bürger*in auffassen. Im Detail baut sie auf Legitimierung (Anerkennungswürdigkeit des Verfahrens und faktische Anerkennung durch die Verfahrensbeteiligten), Akzeptanz (durch maximale Beteiligung und maximale Zustimmung; Offenheit, Transparenz und Fairness im Diskurs), Qualität (mündige, informierte Bürger*innen, Ergebnisoffenheit) und Emanzipation (Bürger*innen als handelnde Subjekte politischer Prozesse und Gestalter*innen) auf (Jörg Sommer 2015. Die vier Dimensionen gelingender Bürgerbeteiligung. In: Ders. (Hrsg.) Kursbuch Bürgerbeteiligung. Berlin: Verlag der deutschen Umweltstiftung, S. 11–21). Entscheidende Elemente sind die konsequente Ergebnisoffenheit – hier müssen die politisch Verantwortlichen ein kleines bisschen mutig sein – und der faire Diskurs – Moderator*innen sorgen in den Diskussionsgruppen dafür, dass alle gleichberechtigt zu Wort kommen.

Alle hier kurz vorgestellten Verfahren genügen diesen Anforderungen. Sie waren bereits erfolgreich (Irland) oder können es werden (Belgien, Deutschland) – unabhängig von der Organisationsrichtung. Mutige Bürger*innen sind im Überfluss vorhanden, sie müssen nur auf mutige Politiker*innen treffen.


Nachtrag:
Natürlich könnte ich auch einige Nachteile dieser Verfahren aufzählen. Enttäuschungen sind reichlich vorhanden. Dieser Blogbeitrag soll jedoch dazu auffordern, diese, im Sinne der guten Bürgerbeteiligung erfolgreichen Formate zu fördern, zu unterstützen und bekannt zu machen.

 

 

[1]

Zufallsbürger*innen werden mittels Zufallsstichproben aus der Bevölkerung ermittelt. Meist werden zunächst räumliche Einheiten (Regionen, Bezirke, Städte) durch Zufallsstichproben ausgewählt. Anschließend zieht man aus dem jeweiligen Melderegister eine weitere Zufallsstichprobe an Bürger*innen. Die Stichproben weisen in der Regel die gleichen sozioökonomischen Eigenschaften wie die Grundgesamtheiten auf. Deren Eigenschaften sind oftmals aus Zensuserhebungen bekannt. Die Bürger*innen aus der Stichprobe können als repräsentativ für die Bevölkerungseinheit angesehen werden, aus der sie gezogen wurden. Ist dies nicht der Fall, kann man bei der endgültigen Auswahl der Bürger*innen entlang der sozioökonomischen (oder anderer) Eigenschaften nachsteuern.


Susanne Pickel ist Inhaberin der Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf die Bereiche Demokratieforschung, Wahlforschung, Politische Einstellungs- und politische Kulturforschung, Transformationsforschung, Empirische Sozialforschung, Methoden der Datenerhebung und -analyse.