Autoren: Christoph Knill, Christian Adam, Steffen Hurka und Yves Steinebach
Dass moderne Demokratien im Zeitalter von Globalisierung, Populismus und Autoritarismus vor fundamentalen Herausforderungen stehen, kann mittlerweile schon als Binsenweisheit gelten. Mit diesem Fokus auf „externe“ Bedrohungen der Demokratie wird jedoch eine weitere Gefahr übersehen, der sich Demokratien durch die jahrzehntelange Anhäufung politischer Maßnahmen selbst ausgesetzt haben. Wir haben uns daran gewöhnt, dass der Gesetzgeber jedes Jahr zusätzliche Maßnahmen erlässt, die unseren Alltag beeinflussen. Gerade für Demokratien ist diese Form der Responsivität der Politik ein Grundpfeiler ihrer Legitimität. Weil es politisch jedoch ungleich schwieriger und weniger opportun ist, Etabliertes abzuschaffen als Neues einzuführen, führt Responsivität häufig zu einer Anhäufung politischer Maßnahmen.
Abbildung 1 Beispiele für den Anstieg politischer Maßnahmen in unterschiedlichen Politikfeldern
Einheitlicher Trend in Westeuropa
Dieser Prozess der Politikakkumulation vollzieht sich bereits seit Jahrzehnten und lässt sich in vielen Staaten und Politikbereichen beobachten. In unserer Forschung erfassen wir Politikakkumulation für 21 OECD Staaten in den Bereichen der Umwelt- und Sozialpolitik, sowie in Bereichen, die sich der sogenannten „Moralpolitik“ zuordnen lassen, wie etwa Sterbehilfe, Abtreibung, oder Prostitution. Die Abbildung 1 zeigt für diese drei Politikbereiche die durchschnittlichen Akkumulationsraten für 15 Staaten Westeuropas. Obwohl der Akkumulationsprozess nicht in allen Ländern und Politikfeldern gleich stark ausgeprägt ist (was auch an den unterschiedlichen Skalen der Y-Achsen in den Grafiken deutlich wird), ist der generelle Trend eindeutig: in nahezu allen Ländern und Politikfeldern verzeichnen wir eine stetig wachsende Anzahl an politischen Maßnahmen (Policy Outputs).
Drei Probleme der Politikakkumulation
Diese Entwicklung ist zunächst durchaus positiv zu bewerten. Politikakkumulation ist in vielerlei Hinsicht das Ergebnis gesellschaftlichen Wandels und Fortschritts. Gleichzeitig ergeben sich aus unserer Sicht mit dieser Entwicklung drei zentrale Probleme. Erstens führt Politikakkumulation zu einer beständig steigenden Belastung der Implementationsebene. Implementationsbehörden müssen nicht nur immer mehr Maßnahmen umsetzen und kontrollieren. Häufig wird ihre Arbeit auch inhaltlich komplexer. Zweitens hat Politikakkumulation Auswirkungen auf die öffentliche politische Debatte. Die öffentliche Diskussion eines Reformvorhabens kann immer weniger angemessen auf die zahlreichen Querverbindungen eingehen, die zuvor durch jahrzehntelange Politikakkumulation entstanden sind. Entsprechend nehmen Diskussionen zu neuen Reformvorhaben oft viel Raum in Expertengremien ein, die breite Öffentlichkeit fühlt sich immer weniger in diese Debatten eingebunden. Zwar bestand schon immer eine Diskrepanz zwischen den Inhalten von Expertendiskussionen und jenen, die in der Öffentlichkeit geführt werden. Die wachsende Komplexität politischer Maßnahmenbündel führt jedoch dazu, dass diese Diskrepanz immer größer wird. Drittens droht diese zunehmende Komplexität unsere Fähigkeit zu untergraben, die Wirksamkeit einzelner politischer Maßnahmen zu überprüfen und gegebenenfalls sinnvolle Korrekturen vorzunehmen. Während komplexe Ergebnisse von Politikbewertungen zwar auf umsichtige Analysen schließen lassen, finden diese komplexen Antworten bei den jeweiligen Entscheidungsträgern oft wenig Gehör. Es entsteht somit eine paradoxe Situation, in der die Nachfrage nach wissenschaftlichen Politikbewertungen zwar wächst, die komplexen Ergebnisse dieser Analysen jedoch immer weniger in der Lage sind, bestehende Ansichten zu verändern.
Moderne Demokratien in der Responsivitätsfalle
Moderne Demokratien stecken somit in einer Responsivitätsfalle. Einerseits bildet Responsivität eine tragende Säule demokratischer Legitimität. Da diese Responsivität im politischen Alltag aber in der Regel zu Politikakkumulation führt, ist andererseits mit beachtlichen Nebenwirkungen für die Leistungsfähigkeit moderner Demokratien zu rechnen. Da Legitimität und Responsivität einander bedingen, gibt es für Demokratien keinen einfachen Weg dieser Responsivitätsfalle zu entgehen.
Wo ein Verzicht auf Akkumulation kaum möglich und Deregulierung nur in beschränktem Umfang sinnvoll erscheint, bleibt nur der Versuch unsere demokratische Infrastruktur zu stärken. Ein funktionierender Staat muss in seine Institutionen investieren, damit sie den Belastungen, die mit der Anhäufung immer umfangreicherer Maßnahmenbündel einhergehen, standhalten können. Eine stärkere Vernetzung zwischen Entscheidungsträgern und -umsetzern könnte dabei die bedarfsgerechte Investition in Verwaltungskapazität verbessern. Gleichzeitig ist hierfür eine deutliche Ausweitung politischer Bildungsangebote notwendig. Um politische Angebote beurteilen zu können, müssen Bürger nicht nur wissen, wie Gesetze erlassen werden. Sie müssen ebenso wissen, wie die diese Gesetze für sie persönlich ihre Wirkung entfalten.
Dieser Beitrag basiert auf folgender Buchpublikation:
Adam, Christian, Hurka, Steffen, Knill, Christoph & Steinebach, Yves (2019). Policy Accumulation and the Democratic Responsiveness Trap. Cambridge University Press.
Zu den Autoren:
Professor Dr. Christoph Knill hält den Lehrstuhl für Empirische Theorien der Politik an der Ludwig-Maximilians Universität München. Dr. Christian Adam, Dr. Steffen Hurka und Dr. Yves Steinebach sind Akademische Räte am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians Universität München.