Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Europawahl 2019: Zwischen welchen Parteien gab es die größten programmatischen Schnittmengen?

Ähnlich wie in anderen EU-Mitgliedstaaten war der deutsche Europawahlkampf maßgeblich durch die Gegenüberstellung von europafreundlichen und europaskeptischen Parteien geprägt. Auf der einen Seite gruppieren sich CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, die den Prozess der europäischen Integration grundsätzlich befürworten und weiter vorantreiben wollen. Sie teilen die Auffassung, dass sich viele politische Herausforderungen unserer Zeit effektiver gemeinsam auf europäischer Ebene als allein im Nationalstaat lösen lassen. Auf der anderen Seite die Alternative für Deutschland (AfD) sowie DIE LINKE, die die Europäische Union und insbesondere die Folgewirkungen ihrer Politik hart kritisieren: Während die AfD den Euro als gescheitert ansieht und das Europäische Parlament abschaffen will, wettert DIE LINKE gegen eine „neoliberale“ Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU, die zu einem verschärften Standortwettbewerb, zu Lohndumping und zum Abbau sozialer Leistungen geführt habe. Beide Parteien stehen der Entwicklung der EU skeptisch bis ablehnend gegenüber und fordern tiefgreifende europapolitische Reformen – wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen ideologischen Hintergründen und Motivlagen.

Während CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne also weiterhin an ihren europafreundlichen Leitlinien festhalten, tragen AfD und DIE LINKE den proeuropäischen Basiskonsens, der jahrzehntelang das deutsche Parteiensystem geprägt hatte, nicht mit. Entsprechend dieser übergeordneten Konfliktlinie wäre zu erwarten, dass die Parteien im proeuropäischen Lager auch in diversen europapolitischen Sachfragen näher beieinanderliegen, während die euroskeptischen Parteien stärker abweichende Positionen einnehmen. Folglich sollte zwischen den vier „Pro-Europa-Parteien“ eine größere inhaltliche Schnittmenge bestehen als bei allen anderen denkbaren Koalitionen, an denen die AfD oder DIE LINKE beteiligt ist. Diese These wird anhand des Wahl-O-Mat zur Europawahl 2019 überprüft.

Wahl-O-Mat

Obwohl der Wahl-O-Mat in erster Linie unentschlossenen Wählern helfen soll, eine Partei zu finden, die mit den eigenen politischen Einstellungen übereinstimmt, stellt er daneben ein Instrument zur vergleichenden Analyse von Parteipositionen dar. Die Parteien waren aufgerufen, sich zu 38 Thesen, die ein breites Spektrum an europapolitischen Sachfragen abdecken, befürwortend, ablehnend oder neutral zu positionieren. Anhand dieser Einstufungen lässt sich das jeweilige Ausmaß an inhaltlicher Übereinstimmung folgendermaßen berechnen: 2 Punkte, wenn zwei Parteien bei einer Sachfrage die gleiche Position vertreten; 1 Punkt, wenn eine Partei die These befürwortet oder ablehnt, während sich die andere Partei neutral verhält; 0 Punkte, wenn die eine Partei der Aussage zustimmt und die andere sie ablehnt. Wenn zwei Parteien in allen 38 Thesen übereinstimmen, ergäbe dies 76 Punkte bzw. eine Übereinstimmung von 100 Prozent.

Tabelle 1 stellt die programmatischen Schnittmengen zwischen den sechs Parteien, die bei der Europawahl die meisten Stimmen erhalten haben, in Prozent dar. Die Werte in den Klammern zeigen die Anzahl an Thesen, bei denen die jeweiligen Parteien komplett übereinstimmen. Die grün markierten Werte zeigen jeweils die Partei mit der größten programmatischen Nähe, die rot markierten Werte die Partei mit der geringsten programmatischen Nähe.

Programmatische Distanzen zwischen Parteien

Die CDU/CSU hat zu allen anderen Parteien relativ ähnliche programmatische Distanzen, wobei die größten Übereinstimmungen mit der FDP bestehen und die geringsten mit der Linkspartei. Die SPD hat mit 88,2 Prozent und 33 von 38 Thesen die meisten inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit den Grünen, während sie die mit Abstand wenigsten Schnittmengen zur AfD aufweist. Ein fast deckungsgleiches Bild zeigt sich bei den Grünen, die allerdings bei noch mehr Sachfragen mit der Linkspartei konformgehen. Die AfD hat mit 50 Prozent die größte Nähe zu den Unionsparteien und bildet mit nur 15,8 Prozent Übereinstimmung einen programmatischen Antipol zu den Grünen. Die FDP hat die meisten Überschneidungen mit der CDU/CSU und die größte Distanz zur Linken. Insgesamt weist die SPD mit einer durchschnittlichen Übereinstimmungsquote von 59,2 Prozent die größte Nähe zu allen anderen Parteien auf, gefolgt von den Grünen, der CDU/CSU, der Linkspartei und der FDP. Die Europaprogrammatik der AfD unterscheidet sich mit einem Mittelwert von nur 32,4 Prozent Übereinstimmung am deutlichsten von den anderen Parteien.

Diese Parteibeziehungen bestätigen einerseits, dass die sachpolitischen Übereinstimmungen zwischen allen Parteien innerhalb des pro-europäischen Lagers größer sind als mit der AfD. Die geringsten Schnittmengen zwischen den vier „Pro-Europa-Parteien“ bestehen mit 51,3 Prozent und nur 16 identischen Sachfragen zwischen FDP und Grünen. Damit liegen diese Parteien aber immer noch etwas näher beieinander als CDU/CSU und AfD (50 Prozent, 13 Sachfragen). DIE LINKE hingegen weist sehr viele inhaltliche Berührungspunkte zur SPD (76,3 Prozent) und vor allem zu den Grünen (80,3 Prozent) auf, sodass die Übereinstimmungen sogar größer ausfallen als zwischen allen proeuropäischen Parteien außer SPD-Grüne. Während also die Ausgangsthese für das Verhältnis der proeuropäischen Parteien zur AfD zutrifft, ist die programmatische Abgrenzung zur Linkspartei in der Europapolitik deutlich schwächer ausgeprägt.

Lager und Koalitionen in der Europapolitik

Das proeuropäische Lager aus CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen kommt auf eine durchschnittliche Übereinstimmungsquote von 62,3 Prozent, wobei sich diese Parteien bei immerhin zehn Sachfragen gleich positioniert haben. Die stärksten Differenzen zeigen sich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, etwa bei der Frage, ob sich die EU für die Einführung eines nationalen Mindestlohns in allen Mitgliedstaaten einsetzen soll, was SPD und Grüne befürworten, aber CDU/CSU und FDP ablehnen. Die größte Übereinstimmung in einer Dreierkoalition, an der die AfD beteiligt ist, besteht mit CDU/CSU und FDP mit einem Mittelwert von 56,1 Prozent bzw. sieben identisch beantworteten Sachfragen. Die größte Konfliktpotential liegt hier in der Flüchtlingspolitik: Während CDU/CSU und FDP am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei festhalten und Asylsuchende in der EU proportional auf die Mitgliedstaaten verteilen wollen, positioniert sich die AfD dagegen. Insgesamt weisen die vier „Pro-Europa-Parteien“ wie erwartet größere programmatische Schnittmengen auf als ein christlich-liberales Bündnis unter Einschluss der AfD.

Allerdings erreicht eine „Europakoalition“ aus SPD, Grünen und Linken eine Übereinstimmungsquote von 81,6 Prozent bei sage und schreibe 26 (!) identisch beantworteten Sachfragen und hat damit eine deutlich größere programmatische Nähe als die Parteien des proeuropäischen Lagers. SPD und Grüne vertreten in der gesamten Bandbreite europapolitischer Themen so ähnliche Positionen, dass sie fast schon mit einem gemeinsamen Programm zur Europawahl hätten antreten können. Entscheidend ist aber, dass die Distanzen von SPD und Grünen zur Linkspartei viel geringer ausfallen als zu CDU/CSU und FDP. Insbesondere bei Sachfragen, die die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU betreffen, offenbaren sich trotz der grundsätzlichen europapolitischen Konfliktlinie große Übereinstimmungen im linken Lager. Die wenigen Dissonanzen bestehen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Während die SPD den Aufbau einer gemeinsamen Armee durch die EU-Mitgliedstaaten unterstützt, lehnen Grüne und Linke diese Idee ab.

Fazit

Die kategorische Gegenüberstellung von proeuropäischen und euroskeptischen Parteien lässt sich nach einem detaillierten Blick in die Europaprogrammatik auf Basis des Wahl-O-Mat nur bedingt aufrechterhalten. Während die AfD zweifellos eine Außenseiterstellung im deutschen Parteiensystem einnimmt, weil sie in der Europapolitik insgesamt sehr geringe Schnittmengen mit anderen Parteien aufweist, gilt dies nicht in gleichem Maße für DIE LINKE. Im Gegenteil, das linke Lager ist in europapolitischen Sachfragen sogar geschlossener als CDU/CSU und FDP ohne die AfD. Vor diesem Hintergrund ist es umso bedeutsamer, dass die Grünen bei der Europawahl einen Stimmenzuwachs von 9,8 Prozent verzeichnen konnten, während die SPD trotz nahezu identischer europapolitischer Positionen herbe Verluste von minus 11,5 Prozent hinnehmen musste. Dieser Befund bestätigt einmal mehr, dass bei Europawahlen viele andere Faktoren das Wahlverhalten beeinflussen, die nicht oder nur sehr indirekt auf die Europaprogrammatik von Parteien zurückgeführt werden können.

 

Der Autor ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel