Autoren: Holger Döring & Valentin Schröder
Vor knapp zehn Jahren wurde das Bremer Bürgerschaftswahlrecht reformiert. Statt einer Stimme für die Auswahl zwischen Parteien können seit der Wahl 2011 fünf Voten abgegeben werden, in beliebiger Kombination für Parteilisten (Listenstimmen) und für Personen auf diesen Listen (Personenstimmen). Durch diese Mischung aus Listenwahl und Personenwahl ist das Bremer Wahlrecht so kompliziert, dass ein nennenswerter Teil der Wählerschaft es offenbar falsch versteht oder schlicht entgegen des Ziels der damaligen Reform nutzt.
Dieses Ziel wird den Wählenden in den Informationskampagnen der Bürgerschaft von 2011 und 2015 klar erklärt: „Sie können sich gezielt für Personen entscheiden, die Sie schätzen.“ Wer mit Personenstimmen wählt, erhöht also die Wahlchancen genau dieser Person, so scheint es. Aber so scheint es eben auch nur. Die konkrete Umrechnung von Personenstimmen in Personenmandate führte bislang nämlich dazu, dass Personenstimmen in der Regel überhaupt nicht den Personen zum Mandatserwerb verhalfen, auf die sie entfielen. Stattdessen führten sie meist zur Wahl irgendeiner anderen Person auf der Liste.
Fremdverwertung von Personenstimmen
Der Grund dafür ist die „Fremdverwertung“. Die Personenstimmen aller Kandidierenden einer Partei werden nämlich zunächst aufsummiert. Aus dem Verhältnis dieser Summe zu den Listenstimmen der Partei werden dann Kontingente für Personenmandate und Listenmandate gebildet. 2011 und 2015 wurden zunächst die Listenmandate gemäß Listenplatz vergeben. Danach fielen in Reihenfolge der jeweils erzielten Personenstimmenanzahl die Personenmandate auf die übrigen Kandidierenden.
Wie viele solche Stimmen jemand erzielt hatte, war egal – nur auf die Rangfolge kam es an. Die Personenstimmen all derer, die diese nicht für ihr Mandat benötigen – z.B., weil sie eben schon ein Listenmandat erzielen – kamen dadurch anderen Kandidierenden zugute. Die Fremdverwertung betrifft vor allem die Spitzenkandidierenden der Parteilisten, denn auf sie entfallen bislang die weitaus meisten Personenstimmen (Punkte in Abbildung 1). Dazu kommen die Personenstimmen der „2. Reihe“ der Parteien, also der Kandidierenden auf den vorderen Listenplätzen. Für sie alle waren die Personenstimmen belanglos, denn zum Mandat kamen sie über die Liste.
Konsequenter Weise hatte die Fremdverwertung 2011 und 2015 denn auch ein geradezu überwältigendes Ausmaß: mehr als die Hälfte aller Personenstimmen – teils über 75% – entfielen auf Listenmandatsgewinner/innen (blaue Linie). Die überwältigende Mehrheit dieser Stimmen ging also komplett am Ziel vorbei.
Ebenso konsequent entfiel nur ein Bruchteil der Personenstimmen auch wirklich auf die Gewinner/innen von Personenmandaten selbst, nur rund 20% (rote Linie). Im Extremfall der FDP bei der Wahl 2015 genügten 718 eigene Personenstimmen für ein Personenmandat. Das entsprach ganzen 4% der für ein Mandat rechnerisch nötigen Stimmen. Da die Wählenden durchschnittlich zwei bis drei Stimmen auf eine Person bündeln, reichte für das Mandat also bisweilen eine Gruppe aus, die diese Person nicht nur persönlich schätzt, sondern auch persönlich kennt. Dass Personen ein Mandat erzielen, die laut Personenstimmenergebnis vergleichsweise wenig geschätzt werden, und dies gerade durch Stimmen für besonders geschätzte Kandidierende, die wiederum selbst überhaupt kein Personenmandat erlangten, ist eine durchaus schmerzliche Absurdität – sie macht das gesamte Wahlsystem sinnlos.
Abbildung 1: Anteile der Personenstimmen (PS) von Mandatsinhabenden an den Personenstimmen bei Bürgerschaftswahlen in Bremen (Wahlgebiet Stadt Bremen)
Veränderung zur starren Listenwahl
Nun wäre diese Absurdität sicher verkraftbar, wenn damit zumindest dem Wohlbefinden des Wahlvolks sichtbar gedient wäre. Gerade dort hat die Reform aber nur für extrem wenige Wählende einen Vorteil und für fast genauso viele einen Nachteil gebracht.
Ein Vergleich der gewonnenen Mandate laut Bremer Wahlrecht mit dem hypothetischen Ergebnis bei starrer Listenwahl zeigt nämlich zunächst eine recht große Schlagkraft der Reform: 20 bis 30 Prozent der Bürgerschaftsmandate entfielen 2011 und 2015 auf andere Kandidierende, als dies bei starrer Listenwahl der Fall gewesen wäre (Punkte in Abbildung 2).
Abbildung 2: Anteile Mandatsveränderung an allen Mandaten durch die Reform und davon bevorteilte und benachteiligte Stimmen verglichen mit starrer Listenwahl (Wahlgebiet Stadt Bremen)
Diese beträchtliche Veränderung spiegelt aber nur ganz geringfügige Unterschiede der Wählenden bei der Verteilung der Personenstimmen wider. Nur rund drei (!) Prozent dieser Stimmen wurden dadurch bevorteilt: die entsprechenden Kandidierenden erzielten ein Mandat, das sie unter starrer Listenwahl nicht erhalten hätten (blaue Linie in Abbildung 2). Sie taten das zu Lasten von ca. zwei Prozent der Personenstimmen, deren Empfänger bei starrer Listenwahl ein Mandat erzielt hätten (rote Linie).
Ein verschwindend kleiner Anteil der Personenstimmen entschied also über einen substanziellen Teil der Mandate. Ermöglicht wurde dies durch die überbordende Fremdverwertung von Personenstimmen. Kandidierende auf den vorderen Listenplätzen erhöhten durch ihre Personenstimmen den Anteil der Personenmandate. Aber da sie in der Regel Listenmandate erzielten, nützten ihnen ihre Personenstimmen mandatsmäßig nichts. Durch Fremdverwertung und da es für die Personenmandate nur auf die Rangfolge nach Personenstimmen ankommt, aber nicht auf die Anzahl, kamen Kandidierende zum Zuge, die selbst nur sehr wenige Personenstimmen erzielten.
Verbesserung durch Korrektur 2019?
Der beunruhigend hohen Durchschlagskraft weniger Personenstimmen hat die Bürgerschaft derweil entgegengewirkt. Ab 2019 werden zuerst die Personenmandate vergeben, und danach die Listenmandate. Die Spitzenkandidierenden mit den Personenstimmen werden also nun tatsächlich auch Personenmandate erlangen. Die Fremdverwertung bleibt aber. Hätte dieses Wahlrecht schon bei den vergangenen Wahlen gegolten, dann wäre es im Vergleich zu starrer Listenwahl zu Veränderungen bei rund zehn Prozent der Mandate gekommen. Durch die Reform der Reform sind aber nun noch weniger Personenstimmen mandatsrelevant: nur drei Prozent aller Stimmen, zwei Prozent zu ihrem Vorteil.
Neben dem übrigen Prozent benachteiligter Personenstimmen dürfte es aber auch in Zukunft eine weitere Verlierergruppe geben: seit der Reform liegt der Anteil ungültiger Stimmen bei rund drei Prozent – doppelt so hoch wie zuvor, besonders erhöht in sozialstrukturell benachteiligten Stadteilen und unter Älteren. Beliebtester Ungültigkeitsgrund: es werden zehn Stimmen abgegeben, je fünf als Personenstimme und als Listenstimme.
Wie die Bremer Wahl für die Parteien ausgeht ist also noch ungewiss. Aber die Chancen sind schon jetzt hoch, dass das Wahlrecht im Vergleich zur Listenwahl diesmal mindestens ebenso vielen Wählenden schadet wie nutzt. Dann ist es aber nicht nur absurd, sondern noch etwas viel Trivialeres: unnötig kompliziert. Also sollte es abgeschafft werden.