Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Nur zweite Wahl? Die Beteiligung an Europawahlen im Schatten (sub-)nationaler Wahlen

Seit der ersten Wahl zum Europäischen Parlament im Jahre 1979 nahm die Beteiligung an den Europawahlen fast durchgängig und kontinuierlich ab. In Deutschland liegt sie seit 1999 bei unter 50%. Zum Vergleich: Die Beteiligung an der Bundestagswahl 2017 betrug 76,2%, auch die Beteiligung an der jüngsten Landtagswahl in Hessen im Oktober 2018 lag mit 67% deutlich höher. Die Europawahlen werden daher in der politikwissenschaftlichen Literatur als „second-order elections" bezeichnet, als für BürgerInnen zweitrangige Wahlen nach den nationalen Wahlen.

Gleichwohl kam es bei der letzten Europawahl 2014 in Deutschland zu einem vielbeachteten Anstieg der Wahlbeteiligung von 43% (2009) auf 48% (2014). Wächst also doch (wieder) das Interesse an Europa und Europawahlen in Deutschland? Leider nein. Vielmehr ist selbst dieser Anstieg eher Zeichen für die anhaltende Nachrangigkeit europäischer gegenüber (sub-)nationalen Wahlen. Die Europawahlen fallen in ihrer Bedeutung für viele sogar hinter Landes- und Kommunalwahlen zurück.

Warum? Entscheidend für den Anstieg der Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2014 gegenüber der Europawahl 2009 war, dass so viele andere Wahlen wie nie zuvor parallel mit der Europawahl stattfanden (siehe Abbildung 1).

In einem 2018 in der Fachzeitschrift Political Science Research and Methods erschienenen Artikel zeigen wir (gemeinsam mit Steffen Zittlau), dass das gleichzeitige Abhalten von Europa- und Kommunalwahlen die Wahlbeteiligung substanziell steigert. Wir nutzen dabei den besonderen Fall von Niedersachsen. Während in allen Kommunen Bürger zur Europawahl aufgerufen waren, fand nur in einigen Kommunen zeitgleich eine weitere Wahl statt: In einem Drittel der niedersächsischen Gemeinden wurde der Bürgermeister neu gewählt. Da dieses Drittel in quasi-zufälliger Weise aus der Gesamtheit aller Gemeinden ausgewählt wurde, haben wir eine perfekte Vergleichsmöglichkeit, um die mobilisierende Wirkung zeitgleicher Wahlen zu prüfen. Es zeigt sich, dass die Beteiligung an der Europawahl in den Gemeinden mit Bürgermeisterwahl im Schnitt um rund 10 Prozentpunkte höher liegt als in den Gemeinden ohne. Dieser Anstieg fällt dabei umso höher aus, je ländlicher eine Gemeinde ist und je knapper der Ausgang der Bürgermeisterwahl ist. Ein sehr ähnlicher Anstieg zeigt sich, wenn wir auf Bundesebene die nicht-zufällige Verteilung von Kommunalwahlen in einigen Bundesländern analysieren.

Basierend auf unseren Zahlen und dem Wissen um zeitgleiche Kommunalwahlen und Volksentscheide bei der Europawahl 2014 in Deutschland können wir so eine kontrafaktische Wahlbeteiligungsrate auf Bundesebene ermitteln. Wie wäre die Wahlbeteiligung ausgefallen, wenn es 2014 keine einzige zusätzliche Wahl neben der Europawahl gegeben hätte? Die Europawahlbeteiligung hätte 2014 in Deutschland wohl nur bei knapp 39 Prozent gelegen.

Für 2019 ist in Deutschland ein ganz ähnliches Muster zu erwarten: Gleichzeitige Wahlen finden in 11 (anstelle von 12) von 16 Ländern statt, zudem sind Verschiebungen zwischen Bundesländern zu erwarten: 2014 fanden nicht in denselben Ländern gleichzeitige Wahlen statt wie 2019. Ein Rückgang der Wahlbeteiligung sollte insbesondere dort zu beobachten sein, wo zwar 2014, aber nicht 2019 parallele Wahlen oder Volksabstimmungen stattfinden. Dies betrifft insbesondere die bevölkerungsreichen Bundesländer Nordrhein-Westfalen (dieses Mal keine Kommunalwahlen) und Niedersachsen (zeitgleiche Bürgermeister*innenwahlen nur in etwa 50 – und damit viel weniger – Gemeinden), aber auch Berlin. Gleichzeitig ist für das bevölkerungsärmste Bundesland Bremen mit einer nun gleichzeitigen Bürgerschaftswahl wohl eine substanziell höhere Wahlbeteiligung zu erwarten, welche den Wegfall von Kommunalwahlen im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen allerdings nicht kompensieren kann. Insgesamt liefert die subnationale Politik 2019 v.a. auf die gesamte Bevölkerung gerechnet weniger mobilisierende Elemente als dies noch 2014 der Fall war.

Inwiefern sind diese Zusammenhänge relevant? Es ist zu erwarten, dass gleichzeitige Wahlen nicht nur die Wahlbeteiligung beeinflussen, sondern sich auch auf Wahlergebnisse auswirken. In einer noch unveröffentlichten Forschungsarbeit zeigen wir – wieder anhand Niedersachsens – dass dies für unseren Fall zutrifft. Dort werden mit der Kombination von Kommunalwahlen und Bürgermeister*innenwahlen bei den Kommunalwahlen die großen, im politischen System zentralen Parteien SPD und CDU gestärkt. Wir argumentieren, dass dem zwei prinzipielle Mechanismen zugrunde liegen: Zum einen Mobilisierungseffekte, etwa durch Amtsinhaber*innen bei einer Wahl, zum anderen die spezifische Kombination von verschiedenartigen Wahlsystemtypen.

Dabei geht es keineswegs nur um Deutschland. Denn das Zusammenlegen von anderen Wahlen mit Europawahlen wird in vielen Mitgliedsstaaten diskutiert oder bereits praktiziert. Ein Zusammenhang zwischen der Europawahlbeteiligung und gleichzeitigen Wahlen ist für diese Mitgliedsländer der Europäischen Union analog zu vermuten. So halten Belgien und Litauen 2019 ihre nationalen Wahlen am gleichen Tag ab. In Irland wird zeitgleich ein Verfassungsreferendum stattfinden und einige weitere Länder werden, ähnlich wie Deutschland, zumindest in Teilen des Landes subnationale Wahlen abhalten.

Die Mitgliedsstaaten der EU können also gleichzeitige Wahlen als positiven Beteiligungsanreiz nutzen. Zwar hat dies vermutlich Auswirkungen auf die Repräsentation – aber eine geringe Wahlbeteiligung hat dies umso mehr. Denn wie Lijphardt (1997: 1) schon vor 20 Jahren betonte: „unequal participation spells unequal influence – a major dilemma for representative democracy.“¹ Gegeben der starken Variation der Wahlbeteiligung zwischen Mitgliedsstaaten (2014: 13 Prozent in der Slowakei bis 90 Prozent in Belgien) und einer Beteiligung von nicht einmal jedem zweiten stimmberechtigten Bürger insgesamt ist dieses Zitat aktueller denn je.