Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Durch die Brust ins Auge: Der Einfluss der nationalen Politik auf die Europawahlen neu überdacht

Es ist eine der frühen Einsichten der Nebenwahlforschung, dass das Wahlverhalten der Bürger*innen und Wähler*innen bei Europawahlen nicht von der europäischen Politik, sondern von den Innenpolitiken der Mitgliedsländer zum Zeitpunkt dieser Wahl bestimmt wird. Dies hat sich in einer Vielzahl von Studien wieder und wieder empirisch bestätigt. Allerdings sind die jeweiligen Konflikte, die nationale Parteien rund um innenpolitische Fragen austragen, durchaus verschieden. Oft, vielleicht sogar zumeist, geht es um die Bilanz der nationalen Regierung und der sie tragenden Partei bzw. Parteien. Fällt diese bescheiden bis schlecht aus, verlieren nationale Regierungsparteien in diesen Neben­wahlen Stimmanteile (verglichen mit ihrem Ergebnis bei der letzten Hauptwahl). Und tatsächlich fällt diese Bilanz aus Sicht der Wähler zumeist schlecht aus, weshalb Regierungsparteien bei Europawahlen häufig schlechter abschneiden.

Die Konflikte zwischen Parteien können jedoch auch andere Ursachen haben. Was wäre, wenn innen­politische Konflikte zum Zeitpunkt der Europawahl ihre Ursache in der Politik der Europäischen Union hätten? Oder – um es deutlicher zu formulieren – wenn die nationale Politik eines oder mehrerer Mitgliedsländer durch Konflikte zwischen der jeweiligen nationalen Regierung auf der einen Seite und europäischen Institutionen wie der Kommission auf der anderen Seite wesentlich mitbestimmt würde? Reine Gedankenspiele? Keineswegs!

 

Europäischer Machtzuwachs, europäisierte innenpolitische Konflikte

Generell ist der politische Gestaltungsspielraum der Institutionen der EU seit Anfang der 1950er Jahre dramatisch angestiegen. Europäische Rechtssetzungen bedürfen zumeist der nationalen Ratifizierung. Deshalb ist die Anzahl der Europäischen (Gesetzes-)Richtlinien, die nationalen Parlamenten zur Ratifikation vorgelegt werden, ein guter Indikator für den Umfang des politischen Gestaltungs­spielraums der Europäischen Union. Die folgende Grafik verdeutlicht die Entwicklung über die vergangenen Jahrzehnte hinweg.

Europäische Richtlinen und nationale politische Gegensätze

Der Anstieg über die Zeit ist enorm. Dies wird von vielen Bürger*innen als Verlust nationaler Selbstbestimmungsrechte wahrgenommen – nicht nur im Vereinigten Königreich, welches sich auch deshalb mit knapper Mehrheit zum „Brexit“ entschlossen hat. Zudem hat natürlich nicht jede Europäische Richtlinie oder Verordnung das gleiche Gewicht. Einige Politiken ragen heraus. Nachdem mit der Zeit die Folgen der globalen Finanzkrise im Euroraum (die sog. „bailout“-Politik muss hier als Stichwort genügen) insbesondere in den sog. „olive countries“ Südeuropas etwas an innen­politischer Spreng­kraft eingebüßt hat, steht heute in zahlreichen Ländern insbesondere Ost­europas – aber nicht nur da – die Europäische Migrationspolitik und die Kontrolle der Freiheitsrechte durch die EU im Zentrum der innenpolitischen Kontroverse. Diese EU-Politiken befeuern nationale politische Gegensätze und – über diesen Umweg – das Wahlverhalten der Bürger*innen in diesen Ländern, auch und gerade in Nebenwahlen, bei denen es scheinbar um wenig geht.

Europäische politische Sachfragen werden immer wichtiger

So gewinnt am Ende die Europäische Politik doch mehr und mehr Einfluss auf das Wahlverhalten der Bürger*innen bei Europawahlen. Und damit erscheint das vielbeklagte demokratische Defizit der Politik der Europäischen Union in einem neuen Licht.  Europäische politische Sachfragen werden immer wichtiger für die nationale Politik und damit – indirekt – auch für das Ergebnis von Europawahlen. Die Demokratie in der EU gewinnt dadurch, wenn auch die politischen Ergebnisse dieses Prozesses nicht jedem gefallen.

Weitere Infos zum Thema finden sie bei Reiff/Schmitt (1980) und Schmitt/Toygür (2016).