Einleitung
Nach Wahlen ist häufig unklar, wer eigentlich gewonnen hat. Wer hat den legitimen Anspruch, eine Regierung zu bilden? In Thüringen etwa wird die AfD bei der anstehenden Landtagswahl am 1. September voraussichtlich die meisten Stimmen erhalten; aber bedeutet das, dass sie auch die größte Wählerunterstützung hat?
Diese Unklarheiten haben auch damit zu tun, dass sich die meisten Wahlsysteme – wie auch das deutsche – für die Wünsche der wählenden Bevölkerung nur begrenzt interessieren. Insbesondere können die Wählerinnen und Wähler nicht zum Ausdruck bringen, wie wenig sie bestimmte Parteien an der Macht sehen wollen. Dabei ginge es auch anders.
Wie können wir die vollständigen Präferenzen aller Wählerinnen und Wähler berücksichtigen?
Wenn wir über Parteien und ihre Angebote nachdenken, haben wir meist nicht nur eine erste Wahl, sondern auch eine zweite, dritte, usw. Abbildung 1 illustriert dies. Inga favorisiert die Grünen, Luise die CDU und Uwe die AfD. Im bestehenden Wahlsystem würden sie dementsprechend ihre Parteienstimme (die Zweitstimme) an diese Parteien geben. Die drei Personen haben aber auch abgestufte Meinungen über die weiteren Parteien. Diese Präferenzordnungen unterscheiden sich naturgemäß, aber in dem gewählten Beispiel nimmt die AfD für Inga und Luise den letzten Platz ein. Sie würden jede andere Partei der AfD vorziehen.
Diese Rangordnungen können verwendet werden, um festzustellen, welche Partei die größte Unterstützung hat. Das sogenannte „Alternativstimmensystem“, das z. B. für Parlamentswahlen in Australien verwendet wird, berücksichtigt die gesamte Präferenzordnung der Wählerschaft in mehreren Runden so lange, bis eine Partei (oder ein Kandidierender) die absolute Mehrheit gewinnt. In der ersten Runde werden die Erstpräferenzen für die Parteien (bzw. die Kandidatinnen) zusammengezählt. Sodann wird die schwächste Partei gestrichen, und die Stimmen ihrer Wählerinnen und Wähler können in der nächsten Auszählungsrunde nun für deren Zweitpräferenz zählen. Danach wird wieder die schwächste Partei gestrichen, usw.
Nehmen wir erneut Inga als Beispiel und stellen uns vor, dass es Luise und Uwe jeweils zweimal gibt: Wen würden diese fünf Personen wählen? Inga würde auf ihrem Wahlzettel ihre Rangfolge eintragen: 1 für die Grünen, 2 für die SPD usw. In der ersten Runde würden die Grünen gestrichen werden, da sie nur Ingas Stimme haben, AfD und CDU aber jeweils zwei Stimmen. Ingas Stimme wandert gleichsam weiter an ihre Zweitpräferenz, die SPD und von dort ggf. weiter an die Linke usw. In der fünften Runde geht Ingas Stimme schließlich an die CDU. Inga ist zwar keine glühende Anhängerin der CDU – sie steht bei ihr nur auf Rangplatz 5 – sie bevorzugt sie aber gegenüber der AfD, die Rangplatz 7 einnimmt. Dadurch wird die Wahl 3:2 schließlich für die CDU entschieden, weil sie unter Berücksichtigung der vollständigen Rangordnung die stärkste Wählerunterstützung hinter sich bringen kann.
Das Beispiel verdeutlicht auch einen großen Vorteil gegenüber dem bestehenden Wahlsystem der Bundesrepublik. Ginge es um das Direktmandat und wollte Inga ihre Stimmen nicht verschenken, müsste sie strategisch wählen. Da ihre Grünen keine Chance auf das Direktmandat haben, müsste sie der CDU als das „kleinere Übel“ ihre Stimme geben. Im Alternativstimmensystem kann sie hingegen bedenkenlos die Grünen auf dem Wahlzettel als ihre Erstpräferenz eintragen und darauf vertrauen, dass ihre gesamte Rangordnung berücksichtigt wird. Dass keine Stimme verloren geht, ist ein großer Vorteil dieses Systems. Dadurch ist es unmöglich, dass ein Kandidierender gewinnt, der in einer Stichwahl gegen jeden anderen Kandidierenden verlieren würde (in der Wissenschaft Condorcet-Verlierer genannt).
Die Präferenzen der Wählerschaft in Sachsen und Thüringen
Sehen wir uns nun die Rangfolgen der Wählerinnen und Wähler bei den kommenden Landtagswahlen an. Wir greifen hier auf eine Umfrage zurück, die Martin Gross, Christina-Marie Juen und Christian Stecker vom 10. bis 28. August 2024 in Thüringen (953 Befragte) und Sachsen (1511 Befragte) durchgeführt haben. Dort werden die Befragten gebeten, alle relevanten Parteien auf sogenannten Skalometern zu bewerten, die regelmäßig auch im Politbarometer berichtet werden. Die Bewertung kann sich zwischen -5 (sehr schlecht) und +5 (sehr gut) bewegen. Wir schreiben auf dieser Basis allen Befragten eine Rangordnung der Parteien zu.
Abbildung 2 zeigt diese Rangordnungen von allen Befragten in Thüringen. Sie stellt Unterteilungen für die Wählerinnen und Wähler der (gemäß Umfragen) vier stärksten Parteien dar. Die erste Facette zeigt die Rangordnung der Wählerschaft der Linken, wo also die Linke auf dem ersten Rang steht. Auf dem zweiten Rang dieser Gruppe folgt bei 37,6 Prozent die SPD, bei 21,2 Prozent die Grünen gefolgt von CDU (21,2 Prozent), BSW (16,5 Prozent) und AfD (2,4 Prozent). Offenkundig favorisieren viele Linken-Wählerinnen SPD oder Grüne als eine weitere linke Partei. Dies fällt auch auf, wenn man die Facetten spaltenweise liest. Je niedriger wir in der Rangordnung gehen, desto seltener taucht dort die SPD auf (nur 2,4 Prozent der Linken-Wähler*innen sehen die SPD auf dem letzten, 7. Platz). Bei der AfD verhält es sich umgekehrt. Sie ist ausgesprochen unbeliebt. Knapp 46 Prozent der Linken-Wähler*innen haben sie auf dem letzten Platz. Entsprechend können die Facetten der anderen Parteien gelesen werden. 28 Prozent der CDU-Wähler sehen die AfD als nächstpräferierte Partei. Zugleich haben mehr als 36 Prozent der CDU Wählerinnen und Wähler die AfD auf dem letzten Platz. Offenbar ist die CDU-Wählerschaft über die AfD uneins. In der Anhängerschaft der BSW zeigt sich eine größere Affinität zur LINKEN und eine dezidierte Ablehnung der Grünen. Die AfD findet sich fast gleichmäßig über alle Rangplätze verteilt. Die AfD-Wählerschaft neigt wiederum dem BSW und dann der CDU zu. SPD, Grüne und FDP werden sehr kritisch gesehen.
Welche Partei hat die größte Unterstützung in Sachsen und Thüringen
Was käme heraus, wenn das Alternativstimmensystem bei den kommenden Landtagswahlen angewendet werden würde; wenn wir also wirklich alle Wählerpräferenzen berücksichtigen, um zu ermitteln, welche Partei die größte Unterstützung hat? Um dies abzuschätzen, behelfen wir uns mit einem Kniff: Wir bilden aus unserer Umfrage eine Gruppe von 1000 Wählerinnen und Wählern, in die die Stärke der Parteien den aktuellen Umfragewerten entspricht. Darin finden sich also 212 Personen mit Erstpräferenz CDU (das entspricht den rund 21 Prozent für die CDU in Umfragen) oder 71 Wähler mit Erstpräferenz SPD (die aktuell bei etwa 7 Prozent geschätzt wird). Gleichzeitig wissen wir für alle diese Wählerinnen und Wähler, welche Parteien sie auf ihren weiteren Rangplätzen haben (vgl. Abbildung 2 oben). Auf dieser Basis (und unter der Annahme nicht-strategischen Wählens) können wir die Ergebnisse des Alternativstimmensystems abschätzen. Abbildung 3 berichtet, wie sich die Stimmenanteile der Parteien über die einzelnen Auszählungsrunden verändern (die stimmenstärkste Partei einer Runde ist jeweils fett hervorgehoben). Abbildung 4 visualisiert die Wählerströme von ausgeschiedenen Parteien zu übrigbleibenden Parteien: je dicker die Stränge, desto mehr Wähler werden von einer Partei nach ihrem Ausscheiden zu einer anderen Partei weitergeleitet.
In der ersten Runde werden die Erstpräferenzen zusammengezählt und die AfD wird mit Abstand stärkste Kraft. Die FDP ist schwächste Kraft und scheidet aus. In der Wählerwanderung zeigt sich, dass dadurch alle Parteien marginal und gleichmäßig Stimmen hinzugewinnen. Durch das Ausscheiden der Grünen in Runde 2 profitieren zunächst Linke und SPD; mit Ausscheiden der SPD in Runde 3 vor allem Linke und CDU. Die Union ist inzwischen näher an die AfD herangerückt. Nach Ausscheiden der Linken in Runde 4 erhält sie so ein dickes Plus, dass sie die AfD überholt. Diese Aufholjagd ist kein Hokuspokus oder gar Manipulation; sie resultiert schlicht daraus, dass die meisten Wählerinnen und Wähler der linken Parteien eben die CDU gegenüber der AfD bevorzugen. Auch die meisten Stimmen der BSW-Anhängerinnen gehen an die CDU, so dass sie schließlich die AfD deutlich mit rund 65 zu 35 Prozent distanziert. Anders als die CDU konnte die AfD in den einzelnen Runden kaum Stimmen dazugewinnen. Sie hat zwar viele eigene Anhänger, ist aber bei den Anhängerinnen der anderen Parteien meist sehr schlecht gelitten.
Abbildung 5 und 6 zeigen die Ergebnisse des Alternativstimmensystems für Sachsen. Auch hier überholt die CDU die zunächst als stärkste Partei gelistete AfD, da sie von den meisten Wählern der anderen Parteien gegenüber der AfD bevorzugt wird.
Wie das Alternativstimmensystem verwendet werden könnte
Man könnte das Alternativstimmensystem zum einen dafür nutzen, bei der Ermittlung der Direktmandate in den Wahlkreisen den Sieg von Condorcet-Verlierern zu vermeiden.
Zum anderen könnte es aber auch landesweit auf die Parteienstimmen angewendet werden und dadurch Auswege aus den häufig antizipierten Problemen bei der Regierungsbildung liefern. Dazu müssten wir uns allerdings von einem selten hinterfragten Dogma des Parlamentarismus verabschieden: dass jede im Parlament repräsentierte Partei auch Einfluss auf die Regierungsbildung hat, also an der Wahl des Ministerpräsidenten und dem Misstrauensvotum teilnehmen kann.
So könnten wir das Alternativstimmensystem dafür nutzen, die beiden Parteien zu bestimmen, die nach Berücksichtigung aller Wählerstimmen die landesweit größte Unterstützung haben. Nur diese beiden Parteien würden eine Art Wahl- und Vertrauensausschuss im Parlament bilden, in dem sie entsprechend des Endergebnisses vertreten wären. Nach den Umfragen würde dann die CDU eine große Mehrheit von ca. 60% in diesem Ausschuss haben und dadurch von den Wählerinnen und Wählern eindeutig mit der Regierungsbildung beauftragt. Sie wäre in der Lage allein eine stabile Regierung bilden, könnte aber nicht allein durchregieren, sondern müsste im Gesamtparlament Mehrheiten finden. Dieses wäre – wie wir es gewohnt sind – gemäß den Stimmenanteilen in der ersten Runde zusammengesetzt, wodurch alle politischen Interessen der Bevölkerung proportional vertreten wären. Die Union könnte dort mit wechselnden Mehrheiten regieren – auch mit Mitte-rechts-Mehrheiten – ohne aber bei der Regierungsbildung auf die AfD angewiesen zu sein. Tatsächlich gibt es im fragmentierten Thüringer Landtag ein recht hohes Potential für wechselnde Mehrheiten. Darüber hinaus würde bei Etablierung eines Vertrauensausschusses die Notwendigkeit der Fünf-Prozent-Hürde im Wahlsystem wegfallen. Diese wird ja vor allem damit begründet, dass sie einer zu starken Zersplitterung vorbeugt, welche die Regierungsbildung verkompliziere. Würde sie deutlich abgesenkt, könnte das Gesamtparlament repräsentativer werden und auch die Demokratie besser schützen.
Über die Autoren:
Steffen Ganghof ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Potsdam
Christian Stecker ist Professor für Politisches System Deutschlands und Vergleich politischer Systeme an der Technischen Universität Darmstadt.