Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Von der Deindustrialisierung zum Populismus? Wie wirtschaftlicher Wandel Wahlverhalten prägt.

15. Mai 2025

Autor*innen: Michael Bayerlein, Julius Kölzer und Anne Metten

 

 

 

Warum erhalten populistische Parteien in manchen Regionen mehr Stimmen als in anderen? Unsere Studie zeigt: Auch die industrielle Vergangenheit einer Region beeinflusst, welche Form des Populismus regional Zuspruch findet. Währen  Regionen mit einem bereits erfolgtem Rückgang der Industriebeschäftigung eher linkspopulistische Parteien unterstützen, sind es Regionen mit nach wie vor hoher Industriepräsenz, in denen rechtspopulistische Parteien stärker abschneiden.

Industriearbeit im Wandel – und ihre politischen Folgen

Im Kontext der Wahlerfolge von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 und der AfD bei der Bundestagswahl 2017 wurde wiederholt die These aufgestellt, dass rechtspopulistische Parteien insbesondere in ehemaligen Industrieregionen mit ökonomischem Niedergang auf hohe Zustimmung stoßen. Diese Annahme wurde durch die überdurchschnittlichen Wahlergebnisse in vormals prosperierenden Industriegebieten wie dem amerikanischen Rust Belt und dem westdeutschen Ruhrgebiet gestützt. Infolgedessen etablierte sich das weit verbreitete Narrativ, dass solche altindustriellen Regionen generell als zentrale Unterstützungsräume des Rechtspopulismus fungieren.

Doch diese Annahme greift zu kurz. Unsere Untersuchung für Deutschland zeigt ein differenzierteres Bild: Nicht der tatsächliche industrielle Niedergang, sondern die Angst vor einem zukünftigen wirtschaftlichen Abstieg ist ein Schlüsselfaktor für rechtspopulistische Wahlerfolge. Damit wird deutlich, dass nicht nur wirtschaftliche Unsicherheit, sondern auch die Interpretation dieses Wandels entscheidend für das Wahlverhalten und politische Reaktionen ist.

Unsere Studie basiert auf einem innovativen Datensatz zu regionaler Industriebeschäftigung in Deutschland. Dieser beinhaltet historische Daten zur industriellen Beschäftigung seit den 1970er Jahren, die mit aktuellen Wahlergebnissen der Bundestagswahl 2021 verknüpft wurden. Dadurch konnten wir zwei unterschiedliche Prozesse untersuchen:

  1. Langfristiger industrieller Niedergang (Actual Decline) – also Regionen, die seit den 1970ern bereits viele Industriearbeitsplätze verloren haben, etwa im Ruhrgebiet oder der Südwestpfalz.
  2. Drohender industrieller Niedergang (Looming Decline) – also Regionen mit einer historisch starken Industrie, die jedoch in Zukunft von wirtschaftlichen Umbrüchen (z.B. Automatisierung) betroffen sein könnten., etwa Standorte der Automobilindustrie in Süddeutschland.

Zwei Mechanismen populistischer Mobilisierung

Derartige Formen des wirtschaftlichen Strukturwandels können, so unsere Argumentation, über zwei Mechanismen unterschiedliche politische Reaktionen hervorrufen:

Materielle Unsicherheit beschreibt die Situation, in der Menschen bereits mit wirtschaftlichen Einbußen konfrontiert sind. Wer durch Deindustrialisierung von Arbeitsplatzverlust betroffen ist oder einen starken Verkleinerung des lokalen Arbeitsmarktes erlebt, tendiert dazu, Parteien zu wählen, die für eine stärkere soziale Absicherung eintreten – in Deutschland also Die Linke (zum Zeitpunkt unserer Untersuchung war das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) noch nicht gegründet). Diese Wähler*innen erfahren die negativen Folgen unmittelbar, sei es durch Arbeitslosigkeit, Lohnverluste oder den Rückgang öffentlicher Investitionen. Der Wohlfahrtsstaat wird als Schutzinstanz gesehen, die Nachteile durch Umverteilung abfedert. In diesem Zusammenhang spricht man von einer klassischen „ökonomischen Reaktionslogik“: Wer unmittelbar von wirtschaftlichem Abstieg betroffen ist oder diesen im nahen Umfeld erlebt, fordert kompensatorische Maßnahmen.

Statusverlust und Zukunftsangst hingegen betreffen Menschen, die sich wirtschaftlich (noch) in einer stabilen Position befinden, aber die Angst haben, dass sich dies in Zukunft ändern könnte. Besonders Industriearbeiter*innen mit geringer Qualifikation fürchten, etwa durch Automatisierung, ersetzt zu werden, ohne über Alternativen zu verfügen. Damit geht es nicht um bereits erlittene Verluste, sondern um die subjektiv empfundene Bedrohung eines wirtschaftlichen Abstiegs, die oft nicht nur ökonomisch, sondern auch im Kontext eines größeren gesellschaftlichen Wandels gesehen wird.

Rechtspopulistische Parteien, wie die Alternative für Deutschland (AfD), nutzen diese Ängste gezielt, indem sie wirtschaftliche Unsicherheit mit kulturellen Bedrohungsnarrativen verknüpfen. Sie deuten wirtschaftliche Veränderungen als Folge politischer Fehlentscheidungen und inszenieren sich als Verteidiger traditioneller Strukturen. Besonders in industriell geprägten Regionen ist die Angst vor Statusverlust nicht nur individuell, sondern auch kollektiv spürbar – der Strukturwandel wird als Bedrohung der lokalen Identität wahrgenommen.

Regionale Muster populistischer Unterstützung

Zur Überprüfung dieser theoretischen Annahmen haben wir in unserer empirischen Untersuchung die Auswirkungen wirtschaftlicher Veränderungen auf das Wahlverhalten systematisch erfasst. Dabei war das zentrale Anliegen, den Einfluss industriellen Wandels von anderen Faktoren wie regionalen demografischen Strukturen oder allgemeinen wirtschaftlichen Trends zu trennen, um fundierte Aussagen über die Korrelation zwischen Deindustrialisierung und populistischer Wahlunterstützung treffen.

Unsere Ergebnisse zeigen folgende Muster:

  • In Regionen, die bereits einen starken Rückgang der industriellen Beschäftigung erlebt haben, ist die Unterstützung für Die Linke höher. Hier scheint wirtschaftliche Unsicherheit mit einer Präferenz für sozialstaatliche Maßnahmen einherzugehen.
  • In Regionen, in denen die Industrie noch eine starke Rolle spielt, aber von Strukturwandel bedroht ist, erhält die AfD mehr Stimmen. Die Angst vor einem zukünftigen wirtschaftlichen Abstieg wirkt hier als treibender Faktor.

Abbildung 1 zeigt, dass Regionen mit einem hohen Industrieanteil in den 1970er Jahren tendenziell höhere AfD-Wahlergebnisse aufweisen – insbesondere in Ostdeutschland. Dort korreliert ein Anstieg der historischen industriellen Beschäftigung um 10 Prozentpunkte zu einem um etwa 1,9 Prozentpunkte höheren vorhergesagten AfD-Stimmenanteil. In Westdeutschland fällt dieser Effekt geringer aus, bleibt aber dennoch signifikant: Ein vergleichbarer Anstieg der industriellen Beschäftigung geht hier mit einem um etwa 1,1 Prozentpunkte höheren AfD-Wähler*innenanteil einher. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu bedenken, dass die AfD bei der Bundestagswahl nur 10,3% erzielte.

 

 

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen historischer Industriearbeit und AfD-Wahlergebnissen 
Anmerkung: Die Abbildung zeigt den geschätzten Stimmenanteil für die AfD in Prozent in Abhängigkeit vom regionalen historischen Anteil an Industriearbeiter*:innen in Prozent. Geschätzt wurde ein `Generalized Linear Model' mit robusten Standardfehlern und den Kontrollvariablen Arbeitslosenquote, Frauenanteil, Bevölkerung 65+, Bildung, ökonomische Ungleichheit und Ostdeutschland.

 

Ein weiteres zentrales Ergebnis verdeutlicht Abbildung 2: Der Anteil der Stimmen für Die Linke korreliert mit dem industriellen Niedergang auf regionaler Ebene. Dies deutet darauf hin, dass linkspopulistische Parteien insbesondere dort Zuspruch finden, wo wirtschaftliche Verluste bereits spürbar sind. Beispielsweise steigt in westdeutschen Landkreisen der vorhergesagte Stimmenanteil von 2,6% auf 3,8%, wenn der industrielle Niedergang im Vergleich zu den 1970er Jahre von -25% auf -80% ansteigt. In Ostdeutschland erhöht sich der vorhergesagte Stimmenanteil der Linken von 7,8% auf 11,1%.

 

Abbildung 2: Zusammenhang zwischen Rückgang der Industriearbeit und Wahl der Linken
Anmerkung: Die Abbildung zeigt den geschätzten Stimmenanteil für Die Linke in Prozent in Abhängigkeit vom regionalen Rückgang des Anteils an Industriearbeiter*:innen in Prozent. Geschätzt wurde ein `Generalized Linear Model' mit robusten Standardfehlern und den Kontrollvariablen Arbeitslosenquote, Frauenanteil, Bevölkerung 65+, Bildung, ökonomische Ungleichheit und Ostdeutschland.

 

Diese Befunde bestätigen unsere theoretischen Überlegungen: Während tatsächliche wirtschaftliche Verluste die Unterstützung für linkspopulistische Parteien begünstigen, verstärken Statusängste und Unsicherheiten über die wirtschaftliche Zukunft die Wahl rechtspopulistischer Parteien.

Fazit: Der Blick auf „abgehängte Regionen“ reicht nicht

Wir können also zeigen, dass die Vorstellung, wonach wirtschaftlich benachteiligte Regionen automatisch rechtspopulistisch wählen, zu kurz greift. Nach unseren Befunden kommt es auf die spezifische wirtschaftliche Entwicklung an:

Industrielle Vergangenheit und Zukunftserwartungen beeinflussen populistisches Wahlverhalten auf unterschiedliche Weise. Bereits erfolgte Arbeitsplatzverluste im industriellen Sektor stärken linkspopulistische Parteien, Zukunftsängste hingegen rechtspopulistische Parteien.

Daher braucht es differenzierte politische Antworten: Strukturschwache Regionen benötigen soziale Absicherung und gezielte Wirtschaftsförderung, um Unsicherheit zu mindern und Perspektiven zu schaffen. Industrieregionen mit drohendem Strukturwandel benötigen vorausschauende Maßnahmen, die langfristige Entwicklungsperspektiven geben – etwa durch Investitionen in Bildung, Qualifikationsprogramme und alternative Industrien.

Unsere Studie zeigt: Nicht der wirtschaftliche Niedergang per se treibt populistische Wahlentscheidungen, sondern die Art und Weise, wie man von diesem Niedergang betroffen ist und ihn interpretiert.

 

Über die Autor*innen:

Michael Bayerlein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) im Global Health Policy Lab an der Charité Berlin.

Anne Metten ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) an der Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Julius Kölzer ist Masterstudent der Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Kiel und Research Assistent an der Technischen Universität Darmstadt sowie an der Universität Konstanz.