Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

The Times They Are A-Changing: Wahlkreisgewinner*innen gestern und heute

Autoren: Thorsten Faas und Ansgar Wolsing

 

 

Bei der Bundestagswahl am kommenden Sonntag wird erstmals das neue Wahlrecht gelten. Überhangmandate wird es nicht mehr geben und damit auch keine Ausgleichsmandate mehr. Das hat Folgen: In den Bundesländern, in denen nach altem Wahlrecht Überhangmandate entstanden wären, wird es künftig Wahlkreise geben, die nicht mehr durch einen Wahlkreisabgeordneten direkt im Bundestag vertreten sind.

Technischer formuliert gilt ein neues Prinzip der „Zweitstimmendeckung“: Eine Partei erhält nur noch maximal so viele Abgeordnete, wie ihr gemäß Zweitstimmenanteil zustehen – selbst wenn sie eigentlich in noch mehr Wahlkreisen am besten abgeschnitten hat. Wenn also eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise gewinnt als ihr dort gemäß Zweitstimmenanteil zustehen, entstehen keine Überhangmandate mehr (wie bisher), sondern es ziehen nur noch die – nach erzieltem Erststimmenanteil sortiert – besten Wahlkreisbesten dieser Partei ein. In den weiteren Wahlkreisen stellt die betreffende Partei also weiterhin den „Wahlkreisbesten“ – jenen Kandidaten oder Kandidatin, der*die über alle Direktkandidaten aller Parteien in diesem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten hat – , aber aus diesen Wahlkreisbesten werden eben keine Wahlkreisabgeordneten mehr, weil für sie die Zweitstimmendeckung fehlt.

Keine Frage, das ist nicht schön. Zugleich aber muss man anerkennen, dass ein Wahlsystem nicht die gleichzeitige Optimierung beliebig vieler Ziele leisten kann. Das Verhältnis von Zweitstimmen und Mandaten perfekt abbilden, die Größe des Parlaments begrenzen und jeden einzelnen Wahlkreis repräsentieren – diese Quadratur des Kreises gelingt offenkundig nicht, wie die jüngere Vergangenheit gezeigt hat. Folglich braucht es Priorisierungen, die die Ampel mit ihrer Reform des Wahlrechts auch vorgenommen hat. Die fixe Größe des Bundestags war ihr wichtiger als die Repräsentation jedes einzelnen Wahlkreises durch eine*n direkt gewählten Abgeordnete*n. Das mag zunächst besorgniserregend klingen – vor allem in einer „repräsentativen“ Demokratie. Aber zugleich kann man auch empirisch fragen: Wie gut kann ein*e Abgeordnete*r heutzutage eigentlich noch einen ganzen Wahlkreis repräsentieren?

Je höher der Anteil der gewonnenen Erststimmen, desto mehr Bürgerinnen und Bürger stehen hinter einem*einer Wahlkreiskandidaten*Wahlkreiskandidatin, und desto besser gelingt auch die territoriale Repräsentation eines Wahlkreises. Wenn aber ein*e Kandidat*in eher wenige Erststimmen auf sich vereinen kann, trotzdem auf Platz 1 landet und am Ende in den Bundestag einzieht, lässt sich fragen: Ist dieser Kandidat oder diese Kandidatin überhaupt geeignet, einen Wahlkreis angemessen zu vertreten? Nur wer eine absolute Mehrheit der Erststimmen erhält, kann mit Fug und Recht behaupten, die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler aus einem Wahlkreis hinter sich zu haben. Aber wer schafft das eigentlich noch?

Schaut man von dieser Warte aus auf die Ergebnisse in den 299 Wahlkreisen bei der Bundestagswahl 2021, so zeigt sich: Nur ein einziger Kandidat konnte einen Erststimmenanteil von über 50 Prozent und damit eine absolute Mehrheit für sich verbuchen, nämlich Johann Saathoff für die SPD im Wahlkreis Aurich-Emden. Dem steht auf der anderen Seite ein gewonnenes Direktmandat gegenüber, bei dem der Kandidat nicht einmal mehr 20 Prozent der Erststimmen erhalten hat, damit aber trotzdem der relativ beste Kandidat in diesem Wahlkreis war. Wie die folgende Abbildung zeigt, gab es zwar nur einen Wahlkreis, in dem der Anteil des erfolgreichen Wahlkreisbewerbers unter 20 Prozent lag, aber eine Ausnahme stellen sehr niedrige Erststimmenanteile der gewählten Abgeordneten trotzdem nicht dar. Die fünf Wahlkreise (über alle 299 Wahlkreise hinweg), in denen die erfolgreichen Bewerber die geringsten Erststimmenergebnisse erzielt haben, sind die fünf „schlechtesten besten“ Erststimmenergebnisse, die es bei allen Bundestagswahlen je gab (Abbildung 1).

 

Nun macht eine Schwalbe noch keinen Sommer (wenn auch vielleicht einen Elfmeter), daher sollte man die Ergebnisse der Wahl 2021 in einen breiteren Kontext setzen (Abbildung 2). Bei der Bundestagswahl 1972 wurden mehr als 80 Prozent der Wahlkreise mit absoluter Erststimmenmehrheit gewonnen. Seitdem aber ist dieser Anteil rapide gefallen – mit seinem absoluten Tiefpunkt bei der Bundestagswahl 2021, als das nur noch in Aurich-Emden der Fall war.

 

 

Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der Verteilung der Erststimmenanteile über die Bundestagswahlkreise hinweg. Es geht also nicht mehr nur um die Frage, ob ein*e Wahlkreiskandidat*in mehr als 50 Prozent der Erststimmen holt oder nicht, sondern um die tatsächlich erzielten Stimmenanteile. Und dabei gilt: Während in den 1980er-Jahren die Direktkandidatinnen und ?kandidaten in vielen Wahlkreisen noch durchschnittlich etwa 55 Prozent der Erststimmen auf sich vereinen konnten, lag dieser Wert im Jahr 2021 nur noch bei rund 33 Prozent.

 

All dies zeigt: Wahlkreisbeste sind nur noch selten echte Wahlkreiskönige oder -königinnen. Die elektorale Unterstützung für Direktkandidatinnen und Direktkandidaten ist in den vergangenen Jahren stark rückläufig. Das mag nicht überraschen in Zeiten, in den das Parteiensystem zunehmend fragmentiert ist. Aber es bedeutet eben doch, dass die eine gewählte Person nicht mehr in gleichem Maße für einen ganzen Wahlkreis stehen kann. Wer mit 20 Prozent einen Wahlkreis gewinnt, hat auch 80 Prozent der Wähler in seinem Wahlkreis, die sich für jemanden anderen entschieden haben. So betrachtet, mag die Prioritätensetzung der Ampel bei der Reform des Wahlrechts wenn auch nicht perfekt, so doch akzeptabel sein.

 

Wir danken Hermine Schütz für Ihre Unterstützung beim Verfassen dieses Beitrags.

Über die Autoren:

Thorsten Faas ist Professor für Politikwissenschaft im Bereich „Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland“ an der Freien Universität Berlin.“

Ansgar Wolsing arbeitet als Director Data & Analytics bei Kaiser X Labs. Zuvor war er unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES).