Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Ob Trump oder Harris: Europa muss sich auf die US-Abkehr vom Multilateralismus vorbereiten

Der 5. November stellt für Europa eine „Schicksalswahl“ dar. Mit einer zweiten Präsidentschaft Donald Trumps verbinden sich Befürchtungen über eine Wiederholung von „America First“ und dem Rückzug der USA aus multilateralen Institutionen. Dagegen stehen große Erwartungen an eine Führungsmacht USA und die transatlantische Partnerschaft unter einer Präsidentin Kamala Harris. Die augenscheinlichen Unterschiede zwischen den Kandidat*innen verstellen jedoch den Blick darauf, dass sich die Europäer*innen auf die weitere Abkehr der USA vom Multilateralismus vorbereiten müssen – egal, wer ins Weiße Haus einziehen wird!

Der US-Rückzug aus multilateralen Institutionen wird sich fortsetzen

Der US-Rückzug aus internationalen Organisationen und Verträgen war keinesfalls eine Eigenheit der Trump-Ära. Freilich gab es keinen anderen Präsidenten, der die US-Unterstützung für so viele und so wichtige multilateralen Institutionen einstellte, wie zum Beispiel für das Pariser Klimaabkommen, die Welthandelsorganisation (WTO), den UN-Menschenrechtsrat oder die Weltgesundheitsorganisation (WHO) während einer globalen Pandemie. Aber auch in der Vergangenheit zogen sich die USA häufig aus multilateralen Institutionen zurück. So beendete Jimmy Carter die US-Mitgliedschaft in der Internationale Arbeitsorganisation (ILO), Ronald Reagan in der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), Bill Clinton in der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO). Darüber hinaus verweigerte George W. Bush die Ratifikation des Kyoto-Protokolls und des Rom-Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH).

Drei tiefgreifende Trends machen erneute Fälle des US-Rückzugs aus multilateralen Institutionen wahrscheinlich: Erstens gab es noch nie so viele und so einflussreiche multilaterale Institutionen, welche selbst den Spielraum der USA eingrenzen und so zu Zielscheiben für eskalierende Angriffe werden. Zweitens nimmt die innenpolitische Polarisierung in den USA auch über Außenpolitik immer weiter zu, was Entscheidungen im Kongress erschwert. Schließlich sind die USA als absteigende Macht mit aufsteigenden Mächten wie China und Indien sowie revisionistischen und illiberalen Staaten wie Russland konfrontiert.

Diesen inneren und äußeren Zwängen war auch Joe Biden unterworfen, der sein Versprechen „America is back“ nur teilweise erfüllte. Unter Biden kehrten die USA zwar in manche multilaterale Institutionen zurück, wie beispielsweise in das Pariser Klimaabkommen, die UNESCO und die WHO. In anderen Fällen blieb die US-Unterstützung aber weiter aus, wie beim „Iran-Deal“ und der WTO, deren Streitschlichtungsverfahren auch Biden blockiert um ungestraft protektionistische Politiken wie den „Inflation Reduction Act“ zu verfolgen. Auch die von Trump hinterlassenen Lücken in wichtigen internationalen Klima-Finanzmechanismen konnten auch unter Biden nicht gefüllt werden.

Minilaterale oder unilaterale US-Außenpolitik

Anstatt innerhalb multilateraler Institutionen zu handeln oder sogar neue anzustoßen, setzte Biden auf minilaterale Clubs mit wenigen ausgewählten Partnern. Er veranstaltete „Gipfel der Demokratien“, setzte wirtschaftspolitisch auf die G7 und technologische Zusammenarbeit mit der EU und schloss informelle Sicherheitsbündnisse mit Japan und Südkorea sowie Australien und Großbritannien.

Trump hingegen handelte zumeist unilateral, bezog die westlichen Partner nicht in seine Entscheidungen ein oder versuchte sie sogar gegeneinander auszuspielen. Die Europäer*innen waren auf sich allein gestellt und mussten globale Probleme wie den Klimawandel oder die Einhaltung von Freihandelsregeln ohne die USA zusammen mit internationalen Partnern wie China angehen.

Wichtige Gemeinsamkeiten in der Außenpolitik von Trump und Biden waren aber, dass die USA ihre Ziele tendenziell außerhalb multilateraler Institutionen verfolgten und sie von den Europäer*innen mehr Engagement und Lastenteilung erwarteten.

Imperative für ein stärkeres Europa

Unausweichlich ist folglich, dass die Europäer*Innen ihre Fähigkeiten von Rüstung bis Finanzwirtschaft bündeln und ausbauen – egal ob sie von Harris dazu angehalten werden, mehr Verantwortung zu übernehmen oder unter Trump dazu gezwungen oder vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Denn nur gemeinsam haben die Europäer*innen genug „Hard Power“, um internationale Probleme von Umwelt- bis Sicherheitspolitik zu bearbeiten.

Entscheiden müssen sich die Europäer*innen aber, ob sie sich auf die minilaterale Zusammenarbeit mit den USA verlegen oder in die Aufrechterhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung investieren wollen, von der sie lange stark profitiert haben. Eine Abkehr von multilateralen Institutionen und ihren Regeln würde ihre „Soft Power“ untergraben. Ihr guter Ruf als Verfechter*innen des Multilateralismus ist jedoch zentral zum Schmieden von internationalen Koalitionen zur Bearbeitung globaler Probleme auch ohne die USA.

Dass dies gelingen kann, zeigte der US-Rückzug unter Trump. In vielen multilateralen Institutionen übernahmen europäische Regierungen und die Europäische Union (EU) eine wichtige Führungsrolle und füllten die von den USA hinterlassenen Lücken. Im Falle des Pariser Abkommens übernahmen die EU und China die Führung bei der Verfolgung der globalen Klimaziele. Das WHO-Sekretariat arbeitete eng mit den europäischen Mitgliedsstaaten zusammen, um der Kritik Trumps zu begegnen und auch ohne die USA die COVID-19-Pandemie zu bekämpfen. In der WTO übernahm die EU-Kommission eine Führungsrolle und schmiedete eine Koalition von Handelsmächten, mit denen sie ein alternatives Handelsgericht einsetzten, um die US-Blockade des offiziellen Streitschlichtungsverfahrens zu umgehen.

Nur wenn die Europäer*innen willens und fähig sind, eine globale Führungsrolle zu übernehmen, kann die regelbasierte internationale Ordnung auch in Zukunft fortbestehen!

 

Dieser Beitrag basiert auf den Ergebnissen aus der Dissertation des Autoren „After Exit – Leadership Transition and Institutional Resilience after Hegemonic Withdrawal“ sowie der gemeinsamen Forschung mit Benjamin Daßler, Raphaela Hobbach, Vytautas Jankauskas, Andreas Kruck und Bernhard Zangl veröffentlicht im Review of International Organizations, Global Studies Quarterly, Global Constitutionalism, dem Journal of Comparative Policy Analysis, der Zeitschrift für Internationale Beziehungen und im Sammelband „Hegemonialer Wandel: Globale Wirtschafts- und Sicherheitsordnungen in der Ära Trump“.

 

Über den Autor:

Tim Heinkelmann-Wild ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.