Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Die Regulierung von Wirtschaft und Menschenrechten seit der Verabschiedung der UN-Leitprinzipien – eine kritische Bestandsaufnahme

Autor*innen: René Wolfsteller und Yingru Li

 

Seit ihrer Verabschiedung durch den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im Jahr 2011 haben sich die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UNLP) zum Dreh- und Angelpunkt eines transnationalen Regimes entwickelt (engl.: “Business and Human Rights Regime”, kurz: BHRR) und weltweit Eingang in politische Rahmenwerke, Gesetze und Richtlinien gefunden. Ein neues Sonderheft der Zeitschrift Human Rights Review widmet sich der kritischen, multidisziplinären Analyse der Funktionsweise und Wirksamkeit dieses Regimes. Im Fokus stehen insbesondere dessen Auswirkungen auf das Verhalten transnationaler Unternehmen (TNCs), Gesetze über menschenrechtliche Sorgfaltspflichten, Nationale Menschenrechtsinstitutionen und Nationale Aktionspläne sowie die bisherigen Entwürfe für ein internationales Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte. Die Beiträge machen deutlich, dass drei Faktoren die Wirksamkeit des BHRR beeinträchtigen: erstens, die defensive Konzeption menschenrechtlicher Rechenschaftspflichten von Unternehmen in den UNLP, welche das gesamte Regime prägt; zweitens, die unzureichende Berücksichtigung der Perspektive der Opfer von Menschenrechtsverletzungen bei der Ausgestaltung des Regimes sowie drittens, die fehlende Abstimmung in der Governance-Architektur des BHRR und daraus resultierende Fähigkeitslücken und Probleme in der Umsetzung und Kontrolle von Maßnahmen und Instrumenten.

Die UN-Leitprinzipien und das Regime für Wirtschaft und Menschenrechte

Die von John Ruggie während seines Mandats als Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs (2005-2011) entworfenen UN-Leitprinzipien haben sich in den vergangenen elf Jahren zum Kernstück eines transnationalen Regimekomplexes für die Regulierung von Wirtschaft und Menschenrechten entwickelt. Sie zielen darauf ab, Menschenrechtsverletzungen unter Beteiligung von Wirtschaftsunternehmen durch einen neuartigen Regelungsrahmen mit drei Säulen zu bekämpfen und zu verhindern: die Pflicht des Staates, vor Menschenrechtsverletzungen unter Beteiligung Dritter wie z.B. Unternehmen zu schützen; die Verantwortung von Unternehmen, Menschenrechte zu achten; und die Gewährleistung des Zugangs zu wirksamen Rechtsmitteln für Opfer von Menschenrechtsverletzungen mit Unternehmensbeteiligung. Trotz der anhaltenden Kritik vielerWissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlicher Akteure an Form und Inhalt der UNLP hat ihre Billigung durch den UN-Menschenrechtsrat und andere Organisationen zur globalen Verbreitung der in den UNLP festgeschrieben Normen und Standards geführt und die Entwicklung nationaler Systeme zur Regulierung von Wirtschaft und Menschenrechten befördert. Die kritische Analyse der verschiedenen Normen, Akteure und Instrumente legt jedoch nahe, dass ihr Potenzial, zur substanziellen und nachhaltigen Verbesserung des Menschenrechtsschutzes in globalen Wirtschaftsprozessen beizutragen, durch folgende strukturelle Defizite beeinträchtigt wird:

 

(1) Die defensive Konzeption menschenrechtlicher Rechenschaftspflichten von Unternehmen in den UNLP

Die UNLP beruhen auf einer schwachen und defensiven Konzeption der menschenrechtlichen Rechenschaftspflicht von Unternehmen (engl.: “corporate human rights accountability”) als einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung, keinen Schaden anzurichten, ohne jedoch neue verbindliche Verpflichtungen oder Sanktionen für Unternehmen vorzusehen. Sie definieren die menschenrechtliche Rechenschaftspflicht als die Verantwortung, Menschenrechte zu respektieren, und verlangen von Unternehmen, „die Verletzung der Menschenrechte anderer zu vermeiden“ und dabei „gebührende Sorgfalt“ walten zu lassen, d.h. „negative Auswirkungen auf die Menschenrechte zu erkennen, zu verhindern, abzumildern und Rechenschaft darüber abzulegen, wie sie damit umgehen.“ (UNLP 11 und 17) Diese Konzeption ist das pragmatische Ergebnis eines strategischen Prozesses internationaler Normsetzung durch Ruggie, wie die Beiträge von Brigitte Hamm und Benjamin Gregg rekonstruieren. Ruggies Primärziel, durch einen möglichst breiten Konsens mit staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren eine realistische Umsetzungsperspektive für die UNLP zu schaffen, wurde allerdings zu dem Preis erreicht, dass nationale und internationale Regelungsinstrumente des BHRR bisher nur selten über die limitierte Konzeption unternehmerischer Verantwortung für Menschenrechte als Schadensvermeidung hinausgehen, beispielsweise in Form einer verbindlichen proaktiven Verpflichtung zur Realisierung von Menschenrechten.

 

(2) Die unzureichende Berücksichtigung von Opfern und gefährdeten Gruppen

 

In der Schaffung der Normen und Instrumente des BHRR zeigt sich außerdem ein wiederkehrendes, problematisches Muster: Gegenüber den Interessen von Unternehmen und Regierungen werden die Interessen von Opfergruppen und Menschen, die einem erhöhten Risiko von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, in den Konsultationen und Verhandlungen oft nicht angemessen vertreten oder berücksichtigt. So wurden im Rahmen der UNLP-Konsultationen keine Orte oder Menschen besucht, die direkt von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen betroffen waren. Zivilgesellschaftliche Akteure und Opfergruppen haben außerdem Schwierigkeiten, sich bei den Verhandlungen über ein internationales Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte Gehör zu verschaffen, da für den Zugang zu den Sitzungen der UN-Arbeitsgruppe eine offizielle Akkreditierung durch den Wirtschafts- und Sozialrat der UN notwendig ist. Die systematische Analyse der Entwicklung und inhaltlichen Ausgestaltung Nationaler Aktionspläne für Wirtschaft und Menschenrechte durch Claire Methven O’Brien, John Ferguson und Marisa McVey macht deutlich, dass besonders gefährdete Gruppen nur in den wenigsten Fällen einbezogen wurden. Auch in der Genese des französischen Gesetzes zu menschenrechtlichen und ökologischen Sorgfaltspflichten wurden die Interessen von Opfern jenen der Unternehmen untergeordnet, indem der ursprüngliche Vorschlag, im Gesetz die Beweislast zugunsten der Opfer umzukehren, vor der Verabschiedung fallengelassen wurde, wie Almut Schilling-Vacaflor erläutert.

 

(3) Fehlende Abstimmung und Kohärenz in der Governance-Architektur

 

Die Beiträge zeigen zudem die mangelnde Abstimmung und Kohärenz sowohl in der Governance-Architektur des BHRR als auch der einzelnen Instrumente. René Wolfsteller weist nach, dass die meisten Nationalen Menschenrechtsinstitutionen (NMRI) derzeit nicht in der Lage sind, die von den UNLP anvisierte Rolle als staatliche, außergerichtliche Beschwerdemechanismen zu erfüllen, da das wichtigste internationale Steuerungsinstrument für die Kompetenzen von NMRI – die Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen – keine starken Befugnisse für Beschwerden gegenüber Unternehmen empfiehlt. Entsprechend fehlt den meisten NMRI diese Kompetenz. Ebenso sind die ambitionierten Ziele von Nationalen Aktionsplänen für Wirtschaft und Menschenrechte oftmals nicht auf deren inhaltliche und äußere Rahmenbedingungen abgestimmt. So mangelt es häufig an spezifischen Indikatoren, messbaren Vorgaben oder den Kapazitäten staatlicher Akteure zur wirksamen Umsetzung, Kontrolle und Bewertung der Maßnahmen. Und obwohl das französische Sorgfaltspflichtengesetz von 2017 eine wichtige Vorreiterrolle einnahm, durch verbindliches nationales Recht Unternehmen und deren Tochtergesellschaften für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in transnationalen Lieferketten haftbar zu machen, leidet seine Wirksamkeit bis heute am staatlichen Unwillen, dessen Umsetzung zu kontrollieren und Verstöße durch Unternehmen zu sanktionieren.

 

Ausblick: Die Hoffnung stirbt zuletzt

 

All diese beabsichtigten und unbeabsichtigten Beschränkungen hemmen das Potenzial des BHRR, einen normativen Wandel im Wirtschaftssektor herbeizuführen. Sie ermöglichen es Unternehmen, sich durch strategische Ignoranz, selektives Engagement oder minimale Compliance der menschenrechtlichen Rechenschaftspflicht zu entziehen, wie Alvise Favotto und Kelly Kollman in ihrer Fallstudie über die größten TNCs in Großbritannien erläutern. Jüngste Vorschläge für eine europäische Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit sowie für ein internationales Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte haben jedoch die Hoffnung auf strengere und kohärentere transnationale Vorschriften wieder aufleben lassen. Der jüngste Entwurf für ein internationales Abkommen, der weitgehend dem von Nadia Bernaz vorgeschlagenen „progressiven Modell“ entspricht, würde ­– im Falle seiner Annahme – nicht nur ehrgeizigere Maßstäbe für die Menschenrechtspflichten von Unternehmen setzen. Er wäre auch ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für eine menschenrechtsfreundlichere Weltwirtschaft.

 

Über die Autor*innen:

René Wolfsteller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Systemanalyse und Vergleichende Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Yingru Li ist Lecturer für Accounting and Finance an der Adam Smith Business School der University of Glasgow.