Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Die Elektronische Aufenthaltsüberwachung in Deutschland – Die Fallkonferenzen als entscheidendes Koordinationsinstrument einer progressiven Policy-Maßnahme im Strafsystem?

Autorinnen: Anna-Lena Wiegand und Nadin Fromm

 

Die Einführung der Elektronischen Aufenthaltsüberwachung in Deutschland

Ein technologiebasiertes Instrument für die Überwachung entlassener Straftäter*innen mit negativer Rückfallprognose stellt die am 01.01.2011 in Deutschland gesetzlich eingeführte Elektronische Aufenthaltsüberwachung (EAÜ) dar. Umgangssprachlich wird für die EAÜ häufig der Begriff der „elektronischen Fußfessel“ verwendet. Ihre Einführung hierzulande erfolgt im Vergleich zu anderen Ländern verzögert, wird kontrovers diskutiert und geht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zurück. Hessen gehört zu den Bundesländern, das bereits vor Einführung der EAÜ in Deutschland zahlreiche Erfahrungen im Bereich der elektronischen Überwachung gesammelt hat und als Vorreiter für andere Bundesländer bezeichnet werden kann. Für die Umsetzung der EAÜ in der Praxis hat man sog. Fallkonferenzen auf Verwaltungsebene etabliert. Verschiedene Akteure des Justizressorts und der Polizeibehörden entscheiden einzelfallbezogen in den Fallkonferenzen über den Einsatz der EAÜ und formulieren eine Empfehlung für den/die zuständige*n Richter*in, der/die selbst nicht Mitglied der Fallkonferenz ist. Die Fallkonferenzen stellen aus verwaltungs- und politikwissenschaftlicher Sicht ein interessantes Instrument dar, in dem ressortübergreifend und in Form eines Wissensnetzwerkes eine Empfehlung getroffen wird. Unser zuletzt veröffentlichter Artikel zu dem Thema liefert interessante Einblicke in die Zusammenarbeit der Akteure. Der vorliegende Text gibt eine kurze Einführung in die EAÜ und soll Interesse wecken, unsere Studie zu lesen, die Open Access verfügbar ist.

Die Einführung der EAÜ ist eine Folge des richtungsweisenden Urteils des EGMR vom 17.12.2009. Der Gerichtshof erklärte die Regelung der sog. nachträglichen Sicherheitsverwahrung rechtlich als unzulässig, welche es dem Gesetzgeber erlaubte, Sicherungsverwahrung nach einem rechtskräftigen Urteil anzuordnen. Nach dem Urteil standen Entlassungen von Personen mit negativer Rückfallprognose bevor, die teilweise mit hohem polizeilichen Aufwand rund um die Uhr überwacht wurden. In Folge verabschiedete der Bundestag am 02.12.2010 das „Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen“, welches am 01.01.2011 in Kraft trat. Im Rahmen dieser Neuregelung wurde die sog. Führungsaufsicht (FA) ausgebaut und die EAÜ gesetzlich implementiert, um so u. a. aufwändige polizeiliche Observationen zu reduzieren.

Die FA ist eine nichtfreiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung, welche Straffällige mit negativer Rückfallprognose nach der Strafhaft oder Unterbringung überwacht. Die EAÜ lässt sich dabei nur im Kontext mit den weiteren Regelungen der FA verstehen. Führungsaufsichtsrechtliche Weisungen normieren bestimmte Verhaltensweisen, welche das Gericht den Verurteilten auferlegt, um spezialpräventiv auf sie einzuwirken. Die EAÜ-Weisung ist dabei kein repressives Element. Vielmehr ist sie präventiv ausgerichtet, indem sie u. a. die Entdeckungswahrscheinlichkeit im Falle einer Straftat durch die Möglichkeit der Geodatenauswertung erhöht. Der Gesetzgeber hat den Anwendungsbereich der EAÜ auf schwerwiegende Fälle mit negativer Rückfallprognose beschränkt. Es handelt sich dabei insbesondere um Straftäter*innen schwerer Gewalt- und Sexualdelikte gem. § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a Strafgesetzbuch (StGB).

Der in diesem Rahmen mögliche Einsatz des Instrumentes der EAÜ ist umstritten. Teilweise wird von Kritiker*innen der sog. „net-widening-effect" befürchtet, d. h. das Risiko der Ausweitung staatlicher Kontrolle, die Stigmatisierung sowie die möglichen Negativeffekte auf die Familien der Proband*innen. Befürworter*innen argumentieren hingegen die mögliche Entlastung des Justizvollzugs und die Vermeidung sog. Prisionierungseffekte (kriminelle Infizierung durch Mitgefangene, Subkultur etc.). Eine Analyse aus politik- und verwaltungswissenschaftlicher Perspektive ist deshalb so interessant, weil der Einsatz der EAÜ indirekt mit der normativ aufgeladenen Debatte verknüpft ist, wie mit Straftäter*innen mit negativer Rückfallprognose umzugehen ist.

Die Umsetzung der EAÜ in den Bundesländern

Die gesetzlichen, technischen sowie infrastrukturellen Voraussetzungen für die EAÜ in Deutschland hat das Bundesland Hessen gelegt: Bereits im Jahr 2000 wurde in Hessen das der EAÜ vorausgehende Modellprojekt der sog. Elektronischen Präsenzkontrolle (EPK) auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen erprobt. Dabei ist die EPK wesentlich von der EAÜ zu differenzieren: Unterschiede liegen u. a. in den Rechtsgrundlagen sowie insbesondere bei der Technik und Zielgruppe vor.

Mit dem Ziel der elektronischen Kontrolle wurden technische Voraussetzungen (GPS-Tracker) sowie infrastrukturelle Rahmenbedingungen, u.a. ein Koordinationszentrum sowie Grundlagen für Verwaltungszusammenarbeit, geschaffen. Das Bundesland Hessen ist somit in Deutschland Vorreiter auf diesem Gebiet und verfügt über praktische Erfahrungen beim Einsatz der elektronischen Überwachung.

Im Anschluss an die gesetzlichen Grundlagen, die EAÜ im deutschen Strafsystem materiell im StGB zu verankern, wurde ein Staatsvertrag zwischen den Bundesländern sowie eine Verwaltungsvereinbarung geschlossen. Diese regelte die Umsetzung der EAÜ innerhalb der Bundesländer. Die konkrete Ausgestaltung des Einsatzes der EAÜ blieb hingegen den Ländern überlassen. Man einigte sich jedoch auf die Einrichtung einer gemeinsamen elektronischen Überwachungsstelle der Länder, welche ihren Sitz in Hessen hat. Gerahmt wird das Instrument der EAÜ formal durch die Fachaufsicht des hessischen Ministeriums der Justiz.

Im Jahr 2022 waren bundesweit insgesamt 125 EAÜ-Proband*innen aktiv (Stand 2022). Die bisher überschaubaren Anordnungszahlen sowie der vergleichsweise kleine Anwendungskreis von Hochrisikostraftäter*innen zeigen, dass die EAÜ in Deutschland als ultima ratio wahrgenommen wird. Ihr Einsatz betont unter Abwägung des Rechtsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit ihren Charakter als letztmöglichen Lösungsweg im Umgang mit der entsprechenden Probandengruppe.

Programminnovation in Hessen

Doch wie gestaltet sich die Entscheidung über die Anlegung einer „elektronischen Fußfessel“? Unser Artikel gibt einen tiefergehenden Einblick in die Entscheidungsfindung exemplarisch für das Bundesland Hessen. Nach § 68b Abs. 1 S. 3 StGB müssen für die Anordnung einer EAÜ mehrere besondere Voraussetzungen erfüllt sein und kumulativ vorliegen. Zusammengefasst entscheidet man sich für einen einzelfallbezogenen Lösungsansatz für den*die jeweilige*n Proband*in hinsichtlich der Ausgestaltung, Zonenanordnung sowie bezüglich des sozialen Betreuungskonzeptes behördenübergreifend zusammenzuarbeiten. Zur Vorbereitung der Entscheidung wird eine einzelfallbezogene Fallkonferenz eingerichtet, bei dem alle am Verfahren beteiligten zuständigen Akteur*innen (entlassende Justizvollzugsanstalt, zuständige Staatsanwaltschaft, Bewährungshilfe, zuständiges Polizeipräsidium, hessisches Landeskriminalamt, Gemeinsame Überwachungsstelle der Länder sowie der hessischen Zentrale für Datenverarbeitung) den Einsatz einer EAÜ einzelfallabhängig beleuchten sowie aus verschiedenen Blickwinkeln (biopsychosoziale und therapeutische Perspektive, biographische Angaben, Haftverlauf, technische Umsetzbarkeit etc.) kritisch reflektieren. Auf Basis der Empfehlung der Fallkonferenz entscheidet ein*e Richter*in der zuständigen Strafvollstreckungskammer abschließend über den Einsatz der EAÜ.

Die EAÜ-Weisung im Rahmen der FA ist der einzige bundesgesetzlich zulässige Anwendungsbereich elektronischer Überwachung von Straftäter*innen in Deutschland. Es handelt sich um eine technische Neuerung und progressives Instrument im deutschen Sanktionssystem. Damit einhergehend stellen die Fallkonferenzen als Koordinationsinstrument durch ihre ressortübergreifende Kommunikation sowie Regelungskompetenz im deutschen Strafrecht eine Innovation dar und könnten in der Verwaltungspraxis anderer Politikfelder Vorbildwirkung entfalten.

 

Über die Autorinnen:

Anna-Lena Wiegand, M. A., ist Absolventin des Studienganges „Master of Public Administration“ der Universität Kassel und hat eine Masterarbeit mit dem Titel „Herausforderungen bei der Implementation der Elektronischen Aufenthaltsüberwachung. Eine qualitative Untersuchung auf Basis von Experteninterviews beteiligter Akteure“ geschrieben.

Dr. Nadin Fromm ist gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet für Public Management an der Universität Kassel.